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Laufberichte

Fang mir jetzt bloß nicht an zu weinen…

 
Autor: Joe Kelbel

... du spielst doch sonst so'n harten Mann. Als Klaus Lage den Titelsong für Schimanskis Film sang, diskutierte ich mit Götz beim Wagner in Sachsenhausen, wer denn der Härtere von uns beiden sei. Gewonnen hat der Apfelwein.

Es gibt heute keine Revanche gegen den Schauspieler, der nächsten Monat 78 wird. Ich kann ihn nicht kontaktieren, er besitzt immer noch weder Handy noch PC. Meine Gegner sind heute meine Beine, die sich von den 285 km der letzten Woche nicht erholt haben. Mein Rippenbruch ist auch noch nicht verheilt, die Temperaturen sind gleich denen in Afrika, doch die Luft dort ist trockener.

 

 

Bei der Startnummernausgabe ist die Luft auch trocken, alle Zapfhähne sind stillgelegt, kein Ort zum Chillen. Bisschen Musik, bisschen Sitzmöbel, vielleicht ein Film über die letzten Duisburg-Maras, das könnte den Messeausstellern mehr Umsatz bescheren. Aber die Arena ist schön, deren Namensrechte die Schauinsland-Reisen GmbH gekauft hat.

Mit einem 2 PS-Leiterwagen gründete Großvater Kassner 1918 sein Transportunternehmen. Die ersten Touren gingen in den Schwarzwald, zum Berg Schauinsland. Das erzählt mir Simone, die Pressereferentin. Daher kommt also der Firmenname. Mit der Beförderderung der Artistenfamilie Frattinelli durch ganz Deutschland gelang dann der Durchbruch. Jetzt ist Schauinsland-Reisen der siebtgrößte Reiseveranstalter.

Auch Anfang des letzten Jahrhunderts wurde der MSV Duisburg gegründet, dessen Arena dies hier ist. Das „M“ steht für den Stadtteil Meiderich. Wer das wusste, der sollte mal einen Fußballer fragen, wofür „Borussia“ steht.

 

 

Auf den reichlich vorhandenen Parkplätze steht das Auto des Läufers, allerdings wird die Zufahrt ab 7:30 gesperrt, der Trubel beginnt also schon früh zwischen schwülen Nebelschwaden eines heiss werdenden Tages. Mein Tag binnt früher, nämlich mit dem Klingeln des Weckers eines Schichtarbeiters um 3 Uhr morgens. Ich hatte noch einen Platz in der Jugendherberge erwischt, doch die wird nicht nur von Läufern genutzt.

Uwe ist auch so ein Arbeiter der alten Schule, er läuft heute in seiner WSK (Wärmeschutzkleidung) für die Rettung der Stahlstandortes Duisburg. „TKSE“ steht auf seinem Rücken: Tyssen Krupp Steel Europe: „Wir sind ja jetzt international!“

Mein Namensvetter Jo läuft wie immer in Rennfahrer-Overall, heute nicht für die Genesung von Michael Schuhmacher, sondern mit Amiflagge – Wahlhelfer für Hillary. Christoph läuft heute seinen 500ten Mara/Ultra, Heinz seinen 100ten. Er beendet mit diesem Lauf seine Marathonkarriere, macht den Schlussläufer und hat eine niedliche rote Laterne in der Hand.

Übrigens Schlussläufer sind diejenigen, die „Finisher“ auf ihrem Shirts stehen haben. Das jedenfalls erzählte eine Dame gestern an der Bar ihrem wenig begeisterten Begleiter.

 

 

Ich hab jetzt auch genug erzählt, es geht los. Vorweg: Duisburg ist vielleicht keine schöne Stadt und hat auch nicht die attraktivste Marathonstrecke. Was aber auffällt und begeistert, ist die unglaubliche Kameradschaft, die weit über das Übliche hinausgehende Verpflegung der in die Orga eingebundenen Vereine und die Unterstützung der Läufer durch die Anwohner. Hier in Duisburg dreht sich alles um die Läufer. Erdbeeren, Kuchen, Bier und Sekt – nur die Reste sind für den Eigenbedarf.

Ich bin bei km 2: Neudorf war mal schön, Friedrich der Große gründete es, indem er Pfälzer Familien mit Land beschenkte. Dazu gab es: Nie wieder Militärdienst, 10 Jahre keine Steuern, Wohnbauzuschüsse, Religionsfreiheit und sogar Reisegeld! Das war 1769.

Eine wirkliche Altstadt gibt es nicht, gestern hatte ich das Rathaus und die Salvatorkirche besichtigt, jetzt geht es durch die Innenstadt, die von modernen Neubauten dominiert wird.

Links nun die Niederstrasse, die älteste Strasse Duisburg, schon 893 Gewerbestandort friesischer Tuchhändler. Kaiser Maximilian I., 1508 Kaiser des heiligen Römischen Reiches wohnte auch hier. Eine Pfaltz (also ein Übernachtungsort) für die Deutschen Kaiser gab es schon etwa 600 Jahre früher und zwar dort, wo jetzt das Rathaus steht.

Bei km 4 überqueren wir die Gleise beim HBF Duisburg. Rechts das Landfermann-Gymnasium, 1280 als Schola Duisburgensis gegründet.

 

 

Km 5 : Am Duisburger Kanal, bis zum Mittelalter das Bett des Rheines,  ist nun „die Marina“. Der Rhein änderte seinen Verlauf nach der Hochwasserkatastrophe um 1200. Jetzt hat sich die Gegend, in der noch immer Getreidespeicher dominieren, in ein Büro- und bevorzugtes Wohnviertel gewandelt. Wir laufen über den Hellweg, den Handelsweg des Deutschen Ritterordens, der bis nach Königsberg führt.

Die Getreidespeicher und Mühlen (Werhansmühle und Küppersmühle) sind nun Museen, bis 1960 waren sie der Brotkorb des Ruhrgebietes. Mit der Sprengung der „Milchtüte“, einem Stahlbetonspeicher, begannen die Umbauaktivitäten. Vermietet sind die Neubauten kaum, wie Schilder künden, aber für außergewöhnliche Laufselvies sind die verglasten Fassaden gut.

Bei km 7 überqueren wir die Karl-Lehr-Brücke. Die zwei Brückenbogen stammen von der zerstörten Hohenzollernbrücke in Köln. Sie wurden 1945 in drei Teile zerlegt und nach Duisburg verschifft. Im Gegenzug erhielten die Kölner frischen Stahl. Ganz haben die Brückenelemente, nun rosa und blau gestrichenen, nicht gereicht, um die Ruhr zu überbrücken. Ein Teil der Überbrückung ist daher nicht so elegant. Elegant ist  Michel, der Friedensfranzose, er  rauscht per Fahrrad mit wehendem Outfit vorbei.

Rechts nun die Ruhr, links die zahllosen Häfen. Über uns das Autobahnkreuz Duisburg, wir überqueren den Rhein-Herne-Kanal (1906-1914). Hier im Ruhrgebiet wurden alle Kanäle und Bauwerke (Brücken, Schleusen etc) mit Möglichkeiten zum Ausgleich von Bergsenkungen durch den Kohleabbau versehen. Auf deutsch: der Wasserspiegel des Kanals wird pro Jahr um bis zu 20 cm gesenkt, die Spuntbebaubaung am Ufer muss angepasst werden.

In den 60er Jahren war der Kanal das Cesenatico von Deutschland. Ein beliebter Sport war es, die Hunde der Wasserschutzpolizei unter Wasser zu ziehen, bis sie kurz darauf, wie ein Korken aus der Sektflasche, aus den Fluten sprangen und mit eingeklemmten Schwanz das Weite suchten. Viel Randale gab es hier, die Schiffer verbarrikadierten ihre Fenster gegen Steinwürfe der Badenden.

Rechter Hand nun der Firmensitz der Franz Haniel & Cie. Franz Haniel war der erste Reeder, der Raddampfschlepper einsetzte. Das war 1828. Ab 1890 kam die Kohle nur noch per Bahn die Ruhr herunter.

1716 wurde der Hafen gegründet, zur Verschiffung der Kohle. Die 300 Jahrfeier geht nächste Woche los. Der Hafen Ruhrort war weltweit bekannt, mehr als der Hafen Duisburg, wo  hauptsächlich Holz und Getreide umgeschlagen wurde. Über 100 Schifferkneipen gab es einst in Ruhrort, 1981 wurde hier der erste Tatort mit Schimanski gedreht. Von seiner Wohnung gab es den Blick über den Rhein auf das Krupp-Werk in Rheinhausen, dazu „Leader of the Pack“ aus dem Kasettenradio.

Vor 300 Jahren fing es mit den Prügeleien zwischen Reedern und Schiffern an, es ging meistens um die Frachtraten. 1901 wurde die Schifferbörse eingerichtet, dort wurden dann täglich die Fracht- und Schlepperlöhne festgelegt. Nun ist dort ein Restaurant untergebracht, das „dauerhaft geschlossen“ ist.  Drei ausgebrannte Häuser entdecke ich entlang der Laufstrecke.

In den 50er Jahren drohte der Hafen wegen des sinkenden Rheinpegels auszutrocknen. Daraufhin baute man die unter dem Hafen liegende Kohle ab, wodurch sich der Boden um zwei Meter absenkte. Berichte von Monsterratten im Hafenbecken sind nicht selten.

Über die Friedrich-Ebert-Brücke geht es auf das linke Rheinufer. 650 Brücken gibt es in  Duisburg, dies ist Duisburgs längste. Wir laufen durch Alt-Homburg. Zunächst grüßt das Haus der Schiffergemeinde Duisburg, einst Anlaufpunkt für alle gestrandeten Flußleute, die im Gewirr des Hafens verloren hatten. Bei über 2000 Küstenmotorschiffen jährlich gab es reichlich Betreuungsbedarf. „Die Nutten hier sind nicht zimperlich“, erzählt mir ein Läufer, der  nicht genannt werden möchte.

 

 

In der kleinen Fußgängerzone von Alt-Homberg sitzen diejenigen, die einst hier arbeiteten. Alt geworden, bedächtig, aber immer für ein Bier zu haben, klatschen sie Beifall.  Es geht durch das Gebiet des US-Konzerns Huntsman. Letztes Jahr beerdigten die Mitarbeiter die Firma mit 500 Kreuzen, doch die Schornsteine rauchen noch. Nun ist die Anlage Forschungslabor für Pigmente. Die strömen reichlich aus dem Schornstein und schmecken ungesund in den Atmenwegen.

Von Alt-Homberg geht der Weg nach Süden über Essenberg nach Hochemmerich und nach Rheinhausen. Auf dem emaligen Werksgelände von Krupp stehen nun Containerterminals und Nutzfahrzeuge, die per Schiff angeliefert werden.

Die Brücke der Solidarität erhielt ihren Namen nach den Arbeitnehmerprotesten gegen die Schliessung des Krupp-Werkes 1987/88. Hier stand Götz George, zog die Schimmi-Jacke aus und unterstütze die Stahlwerker. Mit seinen Auftritten füllte er die Streikkasse. Auch Präsident Rau setzte sich für die Arbeiter ein, so wie Schröder für Holzmann. Wie sagte Uwe, der Stahlkocher, in seiner WSK heute morgen: „Man muss doch was tun, auch wenn´ nicht hilft!“

Eine Ampelanlage regelt die Nutzung der drei Fahrspuren der Brücke.  Die britischen Besatzer verboten den Bau von vier Spuren. Übrigens war Bremen eine amerikanische Enklave inmitten der Britischen Besatzungszone.

In Buchholz fallen Strassennamen auf: Windhucker Straße, Lüderitzallee, Swakopmunder-Waterberg- und Otavistrasse. Das Gebiet wurde 1936 erschlossen, also 20 Jahre nach dem Verlust der Kolonien. Der Duisburger Polizeipräsident trauerte DSWA hinterher. 1959 folgten dann die Lome- (Togo), Daressalam- (DOA), Kenia- und andere Straßen. Wir laufen einen Kilometer über die Lüderitzstraße zu unserem südlichsten Punkt. Lüderitz ist die Hafenstadt in Namibia, einst DSWA. Die Stadt ist nach dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz benannt, der das Gebiet 1883 erwarb und später den Schutz vom Kaiser erbat.

 

 

Mit der Übersetzung des Rheins bei Huckingen begann 1923 die französische Bestzung des Ruhrgebietes. 100.000 französische und marokkanische Soldaten drangen bis Dortmund vor. Der Staat musste die Lohnzahlung von zwei Millionen Arbeitern übernehmen, druckte dafür  Geld, die Hyperinflation entstand.

In Großenbaum stehen Mc Donalds, Media Markt und Bauhaus jetzt auf dem ehemaligen Gelände des Stahlwalzwerkes Hansche Werke AG, das 1983 stillelegt wurde (km 37) .

Ich verfalle auch, und zwar ins Gehen, quäle mich Richtung Stadion. Anja ist ein Lichtblick im Eingangstunnel des Stadions. Sie und ganz Duisburg haben mich schwer beeindruckt.

Am Ende habe ich dank einer lückenlosen, perfekten Verpflegung gefinisht. Ganz große Klasse!

 

 

 

 

 

Marathonsieger

 

Männer


1 Dietrich, Enrico TuS 08 Lintorf e.V. 02:37:31 
2 Kreth, Magnus  ASV Duisburg 02:39:11 
3 Graute, Matthias TLV Germania Überruhr 02:40:44

Frauen

1 Schank, Karin (LUX) C.A. Schifflange 02:58:40 
2 Niehues, Silke  TUSEM Essen 03:15:38 
3 Henneken, Claudia Maria  SSC Köln 03:24:47 

758 Finisher

 

 

Informationen: Rhein-Ruhr-Marathon
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