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Laufberichte

Das Monster

03.05.15
Autor: Joe Kelbel

7. Etappe 60 km + 4500 HM

 

Auf dieser Etappe gibt es die einzige Zeitbarriere: Die ersten 29 km müssen in 7 Stunden zurückgelegt werden, sonst muss man eine Abkürzung laufen und fällt aus der Gesamtwertung. Der Zimmerwirt serviert das Frühstück erst sehr spät. Wir müssen um 7 Uhr am Start sein.

Ich drücke mir die Eisbeutel in die Hosenbeine und die Brötchen in den Rucksack. Die Wasserflaschen werden mit frisch geprestem Orangensaft gefüllt.  Ich weiss, dass ich heute nicht finishen kann. Aber ohnehin sitze ich hier nur aus einer Bierlaune und wegen eines miesen Skorpions, der immer größer wird, je länger ich laufe.

Die Brüder Fernandez stehen locker wie jeden morgen am Start. Rodrigo Souza und Pedro Conde klatschen mich ab, als sei ich ein Held, dabei will ich nur endlich Frieden. Natalia sieht wie jeden Morgen wie ein Model aus. Sie läuft leider im Team mit Diogo. Kirsten, eine amerikanische Fotografin, kriegt von mir nur einen müden Wink. Ich bin todgeweiht und werde heute nicht überleben. Ich weiß das!

„Ca Va?“ ist schon längst zu meinem Markenzeichen geworden. Ich hasse diese sinnlose Frage nach dem Befinden. Jeder quält mich damit. Wenn ich zurückbrülle, „Oui, Ca Va!“ wäre das gelogen. Also lüge ich nicht und das reizt noch mehr. Scheiß Läuferleben. Einzig der bärtige Pedro  aus Bhutan akzepiert mich so, wie ich halt morgens bin.

Es geht steil hinauf, sehr steil. Sehr, sehr steil! Joao, die Socke, wegen dem und seinem Skorpion ich jetzt hier hoch muss, grinst mir breit ins Gesicht, als er mich überholt: „ Ca Va?“  Joao, ich fress dich auf!

Mädchen warnen mich vor der Wiese, da reisst es mich schon von den  klatschnassen Socken. Die Wiese ist ein Wasserfall und jetzt schickt man mich durch den Hinterhof über einen Misthaufen. Mein Aussehen muss unglaublich sein. Am VP gibt es Ziegenhaxen, je eine Keule in eine Hand, so rupfe ich mit Wahnsinnsbiss und –blick  das fette Fleisch von den Knochen. Kohlsuppe mit Speck, Vino verde, Chips, Schinken vom Knochen, gegrillte Salamischeiben, Gojiibeeren, Cola, Bier und Limo, Zwieback mit Sirup, Schokoladenbrot, Orangenscheiben…ich stopfe mir in einer Windeseile ein Zeug rein, dass mir schlecht werden würde, wäre ich normal.

Mich stören die Kurzstreckler. Es geht da ganz, ganz gefährlich an einem Abhang entlang, immer knapp über dem tosenden Fluten eines nicht ganz harmlosen Wildbaches. Alle paar Meter sitzen Jungkameraden und überwachen meine Schritte. Doch wie sollen die 95 kg  retten, wenn ich jetzt hier abrutsche? Wieviele Kilometer habe ich jetzt hinter mir? 240? 260? Oder mehr? Ich weiss es einfach nicht!

Oberhalb der Baumgrenze geht mir richtig die Muffe. Haben wir am Anfang der Reise noch Wege mit den Bachläufen geteilt, so gibt es hier nichts mehr zu teilen. Blankes Entsetzen auf  steilen Granitpfaden, wo jeder Fehltritt dich tief, sehr, sehr tief in den Abgrund schicken kann. Ich sage es mal so: Bei uns würde dieser „Weg“ nie genehmigt werden. Aber deswegen bin ich ja hier! HURRA! Es geht steil hinab und unglaublich steil hinauf.

Fing es in Kambotscha an, oder Jahre vorher, als ich von zuhause weggelief und Tage später  zeckenverseucht bei meinem Vater um Gnade bettelte? Jahrelang sagte man mir, ich würde „weglaufen“. Dabei bin ich der Entdecker und laufe drauf zu! Bartolomeu Diaz, Vasco da Gama, Ferdinand Maggelan, Alfonso de Albuquerque, Bartomoleu Perestrelo, ich habe all ihre Logbücher gelesen! Pedro Álvares Cabral, der Brasilien-Entdecker, und nun Carlos Sá! Ein Hoch auf die Portugiesen!

Peh Siong San, ein Chingeling, sitzt am Bach und wäscht seine Socken!  Nie hätte ich einen Menschen in diesem einsamen Hochtal erwartet! Er ist so gut drauf, hat solche Lebensfreude, dass mir beinahe Pipi in die Augen kommt. Wir machen gegenseitig Fotos, er lacht wie ein kleines Kind. Frage nach Kilometerzahl und Uhrzeit: 15 km, vier Stunden…..Verdammt,  in drei Stunden soll ich bei km 30 sein, sonst ist Ende Gelände. „It´s Ok“, sagt er nur locker, dreht sich um, fotografiert Täler, Wolken, Blumen und Granitsteine. Ich weiß nicht, welche Rechnung er drauf hat, er scheint abgetreten.

Mein Lauf hinauf über die Berge ist nicht locker, ich habe jetzt Zeitdruck. Mir unverständlich, wie sich Läufer mit Ponyfotos abgeben, hier geht es doch um eine Weltmeisterschaft!  Jeder Pass, den ich quere, hat eine Schutzhütte, dicke Grantfindlinge sind in den Mauern verbaut, knorrige Baumleichen stehen gruppiert um das geduckte Gebäude, das wohl seit Menschengedenken niemand mehr betreten hat. In die Wiesen, über die ich laufe, sinke ich bis zu den Knöcheln ein.

Stunden später, in irgendeinem Tal, treffe ich Joao an einem VP und wir schauen uns wie Außerirdische an. Er ist verletzt, ich bin gut drauf. Nicht gut genug. „Das schaffen wir nie!“

Heute Morgen hiess es 65 km, dann 55 km, jetzt sind es 50 km, doch die Barriere bleibt bei 30 km und sieben Stunden. Mit 7 Std 7 Minuten stehe ich wie ein heulender, nasser Hund an der Barriere. Sieben Tage habe ich gekämpft, sieben lange, ewige Tage. Und nun diese Scheiße, wegen sieben Minuten! Ich bin raus, raus, raus. FD!

Joaquim ist 10 Minuten vor mir hier durch. Er war der letzte, der es geschafft hat. Wir sind statt 35 nur noch 22. Joaquim wird für die nächsten 16 km 7,5 Stunden brauchen und den Moment verfluchen, an dem er diese Barriere schaffte. Dort oben heulen keine Hunde, sondern die pure Angst! Oh wie gerne hätte ich sie gehabt.

Stattdessen gibt es eine Abkürzung steil den Berg hinunter. Irgendwo bekomme ich einen Ast zwischen die Beine. Rechts volle Socke auf die Wade, sodass  Blut spritzt, links ans Schienbein. Solche Disaster weiten sich aus. Jetzt noch nicht, aber in wenigen Stunden. Scheiss doch die Wand an! 7 Tage habe ich gekämpft und jetzt nur noch Pech?

Ich laufe heute also nur 34 statt 50. Als ich unter dem Zielbogen stehe, erwartet der Moderator irgendwas Freudiges von mir. Ich bin raus! Es regnet ausnahmsweise, wie seit 7 Tagen. Ich bin sauwütend, habe mal im Fernsehen gesehen, dass man ins Mikro beissen kann.  Ich wusste nicht, dass Mikros so hart sind.

Auf zum Festzelt. Nur ist das um diese Uhrzeit (14 Uhr) natürlich noch nicht „geöffnet“, weil 421 Läufer noch am Berg sind und nur einer hier unten. Aber auch ich habe manchmal Glück: Die Hähne der Zapfanlage sind offen. Ich schieße ein einsames Selfie in einer einsamen Festhalle. Ich bin raus! RAUS ! RAUS!

Lange sitze ich da und denke frierend nach. Weniger Fotos, weniger Bier? Nein, ich bin vor einer Woche hier angetreten, um für den Trans Atlas Marathon zu trainieren. Das hier war ein Zwischenspiel. Trotzdem mies, sehr mies.

Stunden später krieche ich aus dem Zelt, zurück an den Zielbereich. Joao steht da, brüllt „ Du Sau. Duuu!“  Endlich mal normale Leute, tut gut. Läufer stecken bis zur Brust in Kübeln von Eiswasser. Es gibt heisse Suppe und Seranoschinken, direkt vom Knochen. „ Joao, tut mir leid, ich brauche Ruhe, die Zapfhähne sind offen“, sage ich.

Wir haben lange im Zelt gesessen und über die grausame Welt und einen großen schwarzen Skorpion geredet und darüber, dass uns niemand mehr liebt. Und warum der Bierzapfhahn männlich und nicht weiblich ist.

 

Achter und letzter Akt von „Das Monster“
15 km und 1000 Höhenmetern

 

Lacht Ihr nur! 4,5 Stunden werde ich dafür brauchen, auf allen Vieren im eiskalten Regen den Berg hinaufzurobben, meine Fingernägel an den rauen Granitfelsen abbrechen und meine schönen roten Schuhe durch den Dreck ziehen.

Eine verlodderte  Karavane kaputter Heimatvertriebener zieht sich den Berg hinauf. Auf Stöcken gebeugt, auf Rücken getragen, mit dem letzten Hemd, das auch noch stinkt. Mein Schienbein eitert und wird mich in den folgenden Stunden vor Scherzen laut brüllen lassen. Suzet duelliert sich mit mir, dann breche ich am Hang zusammen, Fieber.

Lasst mich bitte diesen letzten Lauf wortlos beenden! Ich danke Euch!

Hier die Zusammenfassung mit Webadressen, Notrufnummern, Daten und Preisangaben: 
„ LMAA“   

Das war der schönste Lauf, den ich je gemacht habe! Das erste Mal in meinem Leben, dass ich im Zieleinlauf meinen Hut ziehe! Alle Achtung, Leute!

 
 

Informationen: Peneda-Geres Trail Adventure
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