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Laufberichte

Es grüßt das Murmeltier

 

Es ist 22.08 Uhr, der Zeitpunkt, zu welchem in Stenkelfeld –oder dem, was davon übrigblieb – in den rauchenden Trümmern keiner mehr an Silvester denkt, und ich fahre in den unterirdischen Bau eines Murmeltieres ein, welches das ganze Jahr über die Berufspendler und Wochenendautomobilisten täglich grüßt. In der Regel nicht nur einmal, es zieht die Show morgens und abends ab.

Später Samstagabend, Fahrtrichtung Bern. Ort und Zeit passen zusammen und so flutscht das Kamel richtiggehend durch das Nadelöhr, dessen Name einer Panzersperre würdig ist: Bareggtunnel; das e kurz und betont ausgesprochen.

Auf der anderen Seite wechsle ich auf dem Limmattaler-Kreuz von der Ost- auf die Westumfahrung Zürichs. An normalen Tagen ist es ein Kreuz mit diesem Kreuz, nicht aber an diesem, zu einer Stunde, in welcher die Bäuche vollgeschlagen darauf warten, dass sie von französischem Edeltraubensaft geflutet werden. Die Zylinder unter der Haube müssen nicht mehr geflutet werden. Kurz nach der Autobahnausfahrt werde ich auf den Parkplatz bei einem Bauunternehmen eingewiesen.

Halloween, Nikolaus und der Krampus, Sternsinger? Verkleidet sind sie allemal, die Leute, welche  vom Parkplatz her den einen Kilometer zur Sporthalle pilgern. Schnittige, eng anliegende Hose und ein Sack oder eine Tasche über der Schulter, das lässt sich um diese Jahres- und Uhrzeit nur von einem Insider einordnen.

Ich stehe im Gewusel dieser Gestalten und schlängle mich hindurch zur Startnummernausgabe, während noch viele Spätentschlossene den neuen Anmelderekord weiter in die Höhe treiben. Über tausend Vormelder waren es, davon 280 auf der Marathondistanz, ein gutes Viertel davon Frauen. 50 Nationen sind vertreten, denn die Rangliste des Neujahrsmarathons ist zugleich die erste Ausgabe der Jahresweltbestenliste. Je exotischer die Staatsangehörigkeit, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, in besagter Liste in der Wertung nach Nation an oberster Stelle aufzutauchen. Davon kann man in vielen Jahren noch seinen Enkeln und Urenkeln erzählen.

Meine Startnummer erhalte ich umgehend, zusammen mit einem gut gefüllten Goody-Bag. Ich geselle mich zu den vielen anderen Teilnehmern, welche mit ihrer Sporttasche bereits auf den Tribünenrängen Platz genommen haben und lausche dem babylonischen Sprachgewirr. In bestem Deutsch hiesiger Mundart werde ich angesprochen und mit Lob für die Arbeit von Marathon4you bedacht. Noch befinden wir uns im alten Jahr, doch ich nehme das buchhalterisch als Transitorische Aktiven ins umgehend anbrechende.

 

 

Wie fast jedes Jahr mache ich nur wenige Bekannte aus, die Mehrzahl davon ist für den Halbmarathon gemeldet. Und dann ist schon der Augenblick gekommen, die Startaufstellung zu beziehen. Beim Startbogen herrscht dichtes Gedränge, am Ende der u-förmigen Schlange dahinter, wo ich mich einreihe, ist es etwas entspannter. Der DJ waltet gekonnt seines Amtes und der Moderator tanzt wie ein Irrwisch durch die Halle. Der Countdown beginnt und damit ein weiteres Déjà-vu. Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, dass ich das letzte Mal hier stand. Einen Unterschied mache ich allerdings aus: Ich spüre mehr Emotionen in mir. Das liegt an der verstrichenen Zeit und dem Erlebten, welches diese ausgefüllt hat. Etwa drei Minuten nach dem Startsignal beginnt auch für mich das Abenteuer  Marathon 2017. Hinaus aus der Halle, an lodernden Finnenfackeln und dem Fotografen vorbei geht es kaum merkbar hinunter zur Limmat auf den breiten Spazierweg. Von Beginn weg kann ich mein Tempo laufen, bei dessen Wahl ich mich nur aufs Gefühl verlasse. Die Uhr wird mich leider auch im neuen Jahr immer wieder zu versklaven versuchen, darum habe ich gar keine dabei. 

Über dem Limmattal explodiert Feuerwerk, etwas, was es in meiner Kindheit in der Schweiz nur am Nationalfeiertag gab. Da die Laufrichtung zu Beginn der Runde flussaufwärts ist und wir uns nach knapp vier Kilometern auf dem Stadtgebiet von Zürich bewegen, sind auch die pyrotechnischen Auswirkungen des Silvesterzaubers am Seebecken zu hören und zu sehen. Der Hochnebel wird blitzlichtartig orange erleuchtet und das dumpfe Krachen erreicht etwas später meine Ohren. Zauber nennt sich das. Wie wirkt das in den Augen und Ohren und in der Seele eines Menschen, der dem Krieg in Syrien entrinnen konnte? 

Sollte jemand einwenden, dass dies ein politisches Statement ist, das nicht in einen Laufbericht gehört, dann hat er einen Teil dessen nicht verstanden, was das Laufen ausmacht. Zeit, mir Gedanken zu machen, Gedanken nachzuhängen, einzusortieren, Schlüsse zu ziehen und Wege zu evaluieren, wie ich diese umsetzen kann.

Laufen ist aber auch für mich nicht nur ernstes Philosophieren, sondern auch Spaß und Leichtigkeit. Darum gibt es an dieser Stelle eine kurze Lektion Schweizerdeutsch (die Süddeutschen sind mit diesen Ausdrücken auch vertraut). Anlass ist der andere Brückenkopf der Fußgängerbrücke, welche uns über die Limmat bringt. Der liegt nämlich auf der Werdinsel, einem beliebten Badeort im Sommer, der sogar eine gesonderte Zone für textilfreies Baden bietet. Dort baden dann eben die „Blüttler“, diejenigen die es lieber blutt, also nackt, tun. Obwohl blutt das Vorhandensein von textilen Resten negiert, gibt es im Schweizerdeutschen noch eine Steigerungsform von blutt, nämlich „füdliblutt“ (Für Nicht-Eingeweihte: Fudi/Füdli ist das Dialektwort für Po).  Also, sag ich doch, Laufen bildet.

Auf der Werdinsel ist einer von zwei Verpflegungsposten eingerichtet. Iso, Wasser, Bananen, Riegel, Gel; das Angebot passt, das Getränk ist angenehm temperiert und wird ohne Hektik speditiv gereicht. 
Auf der rechten Limmatseite geht es in entgegengesetzter Richtung weiter. Der Spazierweg ist jetzt nicht mehr so breit wie auf der anderen Seite und stellenweise mit Wurzeln durchsetzt, die aber, wie auch andere Hindernisse, alle mit Leuchtfarbe bestens markiert sind und sogar ohne Licht der Stirnlampe kaum zu übersehen sind. Die Hälfte der ersten Runde ist schon vorbei, und mit so vielen anderen Läufern auf der Strecke wird sich auch die zweite Hälfte kurz anfühlen. 

Kurz nach dem Bistro Testa Rossa mit der aufwändigen Weihnachtbeleuchtung kommt der architektonische Höhepunkt der Strecke, das Kloster Fahr. Finnenfackeln brennen auf der Brücke vor der im Scheinwerferlicht erleuchteten Fassade. Der Fotograf ist in Stellung und kreiert stimmungsvolle Marathonbilder, welche vermutlich erst im Sommer wieder ernsthafte Konkurrenz bekommen, wenn im Hintergrund des Läufers Bergpanoramen zu sehen sind.

Bald danach kommt das letzte Kilometerschild, bevor wieder die Flussseite und die Laufrichtung gewechselt werden. Nach diesem Wechsel wird die 10km-Zeit gemessen, dann geht es schon bald zurück zur Sporthalle. Auf dem blauen Teppich geht es unter dem Zielbogen durch, für die Finisher der kürzesten Distanz bereits geradeaus, für mich links, zu einem Seitenausgang hinaus ins kalte Dunkel, wo der zweite Verpflegungsposten mit seinen freundlichen Helferinnen wartet. Iso und Gel sind geschmacklich vom Besten, was es bei Laborfutter gibt, und in meinem Fall sehr verträglich für Magen und Darm.

Auf der zweiten Runde bin ich erstaunt, wie stark das Feld schon ausgedünnt ist.  Auf der gegenüberliegenden Uferseite ist dafür ein Kolonne von Stirnlampen zu sehen, die sich, aufgereiht wie Perlen an der Schnur dem ersten sportlichen Ziel des Jahres entgegenbewegen. 

Das Böllerknallen lässt nach und lässt dem Rauschen der Limmat wieder Platz. Das Leben sei ein ruhiger langer Fluss, dieser Filmtitel kam mir vergangenes Jahr dabei in den Sinn und ich wünschte es mir für das anbrechende Jahr. Lang kam es mir nicht vor, mal abgesehen von den Wochen, welche ich vorwiegend liegend verbringen musste. Ruhig war es auch nicht und dazu leider mit Trauer versehen. Ich hoffe jetzt mal, dass das Murmeltier diese Dinge im Programm weglässt und all die schönen Momente des vergangen Jahr wieder hervorholt.

Mittlerweile verstehe ich auch die Zeitanzeige auf der Werdinsel. Es werden die Minuten, die Sekunden und die Zerquetschten hintenan angegeben. Das gibt mir eine ungefähre Idee, wie ich unterwegs bin. Es scheint, als sei ich wie beabsichtigt unterwegs.

Die Finnenkerzen beim Kloster brennen nicht mehr so schön, rauchen dafür umso mehr. Die paar unfreiwilligen Lungenzüge und das Brennen in den Augen sind aushaltbar. Schönheit (auf den Fotos) muss leiden…

Volles Rohr in die Sporthalle Unterrohr wäre ein schönes Wortspiel und in meinem Fall sehr fahrlässig, denn dieses Bild, das ich gleich wieder sehen werde, möchte ich noch zwei weitere Male genießen. An aufmunternden, lobenden Zuschauern vorbei die Start- und Ziellinie überschreiten. Dass ich es mir gut eingeteilt habe, bestätigt mir die Uhr. Den Halbmarathon habe ich ziemlich genau in meiner  Luzerner Pacemakerzeit hingekriegt. Wenn mein Gefühl auch den Rest des Jahres so zuverlässig arbeitet, kann ich hoffentlich einigen sonst auftretenden Schwierigkeiten aus dem Weg gehen.

 

 

Die dritte Runde wird die härteste. Mit diesem Bewusstsein mache ich mich auf die zweite Marathonhälfte. Obwohl, in Anbetracht meiner läuferischen Vergangenheit des eben abgeschlossenen Jahres fühle ich mich erstaunlich frisch. Das rechte Knie, dessen Knorpel mich an die nicht erhaltenen Belastungsimpulse zum Erhalt der Geschmeidigkeit erinnert, ist zwar ein Störfaktor, doch kein Vergleich zu den Beschwerden vor einem Jahr. Ich erinnere mich, wie ich mir bei zunehmenden Schmerzen in der Ferse Gedanken machte, wie es wohl läuferisch weitergehen werde.
An dieser Stelle erlaube ich mir zu erwähnen, auch wenn es für die Sache des Neujahrsmarathons irrelevant ist, dass der spätere Entscheid richtig war, die Haglundferse mittels Kelly-Keck Osteotomie operativ zu behandeln.  

Da ich in der Dunkelheit auf einem Rundkurs keine Angst haben muss, ein tolles Fotomotiv zu verpassen, habe ich Zeit, mich auf meine Schritte, mein Abrollen und die Versuchung der noch ungleich trainierten Muskulatur, diesem Ungleichgewicht nachzugeben. So vergeht die mit Respekt erwartete dritte Runde ganz passabel über die Bühne. Daran kann auch das Murmeltier beim Kloster Fahr nichts ändern, das mir mit einer zusätzlichen Rauchschwade ein Hindernis in den Weg stellt. 

Zum dritten Mal laufe ich in die Sporthalle hinein, stelle fest, dass ich auch in dieser Runde das Tempo halten konnte, sogar minimal gesteigert habe, und laufe wieder hinaus zur Verpflegung, wo ich mich für den freundlichen Service bedanke und anmerke, dass ich trotzdem nicht nochmal vorbeikommen werde. „Dabei siehst du noch so frisch aus“, werde ich gebauchpinselt. Selbigen halte ich allerding unter der Jacke verborgen, auch wenn der Schwimmring des letzten Winters trotzt Laufpause endlich wieder etwas geschrumpft ist (Den brauche ich auch nicht mehr: Aquajogging ist vorbei, jetzt wird wieder gelaufen!).

 

 

Auf der letzten Runde setze ich mein Vorhaben um und beschleunige. Jetzt lasse ich den Genuss Genuss sein und trainiere, denn es bleibt mir nur wenig mehr als ein halbes Jahr bis ich die Form für mein großes Laufvorhaben zusammen haben muss. Ich arbeite Kilometer für Kilometer ab und hefte mich dabei immer wieder an die Leuchtstreifen, die vor mir auftauchen. So hangle ich mich weiter ins Ziel.

Vom Zielbogen bis zur Dusche sind es zwanzig Meter und das Murmeltier wäre tot, würde ich nicht erwähnen, dass Letztere angenehm heiß ist. Ich genehmige mir noch einen ebenfalls heißen Kaffee, der mich hoffentlich bis zur Haustüre wach hält und mache mich auf die Heimfahrt. Es ist ein guter Beginn und der Rest des Jahres darf diesem gerne folgen. Meinen Großkindern und Urenkeln – so ich das Andere und damit logischerweise das Eine einmal haben sollte, kann ich dereinst auf jeden Fall stolz erzählen, dass ich als – als Senior notabene -  in der Jahresweltbestenliste im Marathon einmal Platz 128 inne hatte. Ich hoffe, dass sie mir dann nicht sanft beibringen müssen, dass sie das Murmeltier wieder grüßt und ich das ihnen schon genügend oft erzählt habe.

 

Informationen: Neujahrsmarathon Zürich
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