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Laufberichte

Marrakech-Marathon 2008: 42,195 Km, und doch anders

27.01.08

Im November bin ich Marrakech zuletzt begegnet. Damals war es ein Hotel mitten in der Altstadt, eines dieser tollen Riads. Urige Wohnhäuser inmitten des Gassen-Wirrwarrs, häufig modernisiert und zu gemütlichen, vor allem ruhigen Pensionen umgewandelt. Für mich war es wie die Liebe auf den ersten Blick. Keine Ahnung, warum das so war. Schon nach kurzer Zeit ging mir die Bettelei und das teils ruppige Gedränge in den engen Straßen nicht mehr auf den Geist, ich konnte mich relativ schnell mit Marrakech und seinen Eigenheiten arrangieren. Schönheit, Elend, Dreck und Armut, Prunk und Orient - das alles liegt dicht nebeneinander. Hier wollte ich nun einen Marathon laufen.

Die Kosten für ein solches Abenteuer halten sich in überschaubaren Grenzen: der Flug für 30 Euro von einem kleinen Hunsrück-Flughafen aus, das Hotel eines französischen Konzerns direkt neben dem Hauptbahnhof für etwa 40 Euro die Nacht gebucht. Und das tägliche Leben in der Wüstenstadt verschlingt auch keine Unsummen, sofern man seine Ansprüche runterschraubt. 

Gemeinsam mit Udo Stoßberger und Frau Claudi aus Calw ging es also nach Marrakech, Flugzeit etwas mehr als drei Stunden. Udo kenne ich seit dem Lappland-Ultra aus dem vergangenen Jahr, ebenfalls ein Läufer aus Leidenschaft, den selbst eine kurz zuvor eingefangene Grippe nicht umhaut. Oder doch?

Natürlich hätten wir am Samstag auch in Rodgau ein  paar Runden drehen können, aber wieso nicht den blauen Himmel und die 25 Grad im Nordwesten Afrikas mitnehmen? Rodgau ist Kult, Marrakech ist dafür einfach nur wohltuend. Schon die ersten Meter aus dem Flughafengebäude wecken  Frühlings- bis Sommergefühle, und das mitten im Januar.

Mit einem Uralt-Mercedes-Taxi geht es zunächst zum Hotel, dann gleich weiter zur Nummernausgabe. Die ist auf einem großen Platz in einem beduinenartigen Zelt untergebracht, die französischen Organisatoren spendieren pro Teilnehmer zwei Baumwoll-Shirts als textile Erinnerung. Um das Zelt herum tummeln sich Kids, die sich gerade auf ihre Läufe vorbereiten. Das Vorprogramm zum Marathon, auch ein Stand der marokkanischen Sportjugend ist vertreten.


Was bei uns für einen Eklat sorgen würde, gehört hier offenbar zum guten Ton: die Sportfunktionäre paffen eine Zigarette nach der anderen, selbst ein Glimmstengel-Verkäufer betreibt seinen Handel inmitten einer kleinen Marathonmesse. Aber andererseits ist die Luft durch die Autos und Mopeds in Marrakech eh schon derart versaut, dass es auf die paar Zigaretten wohl auch nicht mehr ankommt. Der Marathon-Veranstalter wird sich schon was dabei gedacht haben, dass er die Strecke in die Außenbezirke verlegt hat.

 


Wir tauchen mit unseren Startnummern und den Shirts zunächst aber ab in die Hektik der abendlichen City, in die Welt der Gaukler, Schlangenbeschwörer, sowie Garküchen. Mittelpunkt ist der  "Platz der Gehenkten", ein buntes Treiben aus tausend Stimmen und ebenso vielen Gerüchen - genügend Stoff für viele Träume und die letzte Nacht vor dem Marathon.

Zehn Stunden später, es ist Sonntag. Auch in unserem Hotel am Hauptbahnhof sind Marathonis aus halb Europa untergebracht, vor allem aber Franzosen. Viele wollen nur die halbe Strecke in Angriff nehmen, auch Udo ist hin- und hergerissen. Von seiner Grippe, vom Husten und vom Fieber, hat er sich noch nicht ganz erholt. Udo fühlt sich einfach nicht fit, will es aber versuchen.

Gemeinsam traben wir langsam zu dem Platz, an dem am Vortag noch Nummern und Zigaretten verteilt wurden, sicher in der Annahme, hier sei auch heute der Start. Unser Misstrauen wächst, als uns einige Läufer entgegen kommen. Und dann tatsächlich die Überraschung: kein einziger Teilnehmer am vermeintlichen Startplatz, auch die Stände sind leer. Keine Menschenseele, keine Musik, kein Zigarettenverkäufer, wir sind schlicht am total falschen Ort in einer völlig fremden Stadt! Und das zwanzig Minuten vor dem offiziellen Start... der Puls fährt nach oben, wir folgen in unserer Not jenen Menschen, die irgendwie nach Läufern aussehen.

Niemand kennt sich so richtig aus, wir laufen, fluchen nebenbei, aber hoffen. Die suchende Meute wird immer größer, wir sind nicht die einzig Falschen, und dann scheint jemand tatsächlich den richtigen Weg zum Start zu kennen. Die Menge läuft hinterher, was bleibt auch sonst übrig? Aber mit jedem Meter mehr steigt die Zuversicht, und schließlich - nach etwa drei Kilometern Blindflug - sind wir auf einer breiten Avenue, dem Start, angekommen. Endlich! 

 


Alles ist wieder im läuferischen Lot, die Sonne scheint, und es sind noch fünf Minuten bis zum Startschuss. Ich ziehe mein T-Shirt aus, mir ist warm geworden. Und außerdem will ich im Singlet laufen, so früh im Jahr gab´s das noch nie. Offenbar gibt es aber noch andere Läufer mit ähnlichen Gedanken, denn an den Rändern des Startblocks haben sich bereits einige Leute postiert, die nur auf die abgelegten T-Shirts warten. Entweder für den Eigenbedarf oder den Wiederverkauf. Ihre Tüten sind mit zehn, zwanzig Hemden gefüllt. Ich weiß es nicht genau, aber diese Szenen erinnern mich daran, wie arm dieses Land ist. In keiner von mir bisher besuchten Stadt habe ich häufiger gespendet wie in Marrakech. Darüber kann man geteilter Meinung sein, aber ich habe es gerne getan, und sei es auch nur eine T-Shirt-Spende.

Mit etwas Verspätung geht es los, die 19. Auflage des Marrakech-Marathon beginnt. Alles wie bei uns, nur dass eben links und rechts der Strecke einige Palmen stehen. Es geht auf breiten Straßen zunächst durch die Stadt, an unserem Hotel vorbei, dann aber auch sehr rasch aus der City heraus. Kaum zu glauben: kein Auto bewegt sich, die Motoren der Mopeds sind verstummt, es herrscht geradezu unheimliche Stille. Die Läufer haben Vorfahrt, zumindest in diesem Augenblick. Das alles immer unter den wachsamen Augen der Polizei.

Selten habe ich einen Marathon erlebt, wo mehr Uniformierte aufgeboten wurden. Alle hundert Meter steht mindestens ein Beamter, auch mitten in der Wüste, wo es eigentlich nichts zu bewachen gibt. Das weckt gemischte Gefühle, erinnert die Szenerie doch an einen Polizei- und Überwachungsstaat. Unpolitisch betrachtet hat es den Vorteil, dass wir Läufer relativ störungsfrei unsere 42,195 Kilometer runterspulen können. Mehr aber auch nicht. Bei Km 5 sind wir schon aus der Stadt, die erste Verpflegung. Das Wasser wird in kleinen Plastikflaschen gereicht, Sidi Ali, das wohl bekannteste Wasser in diesem Land und zugleich einer der Geldgeber des Marathons. Was folgt, wird sich so an fast jedem Stand wiederholen: kleine Kinder betteln um die Wasserflaschen, und zwar so sehr, dass einem kaum anderes bleibt, als Sidi Ali mit den Kleinen zu teilen. Was dazu führt, dass ich mich immer mit zwei Flaschen eindecke - eine für meinen Durst, die andere für die Straßenkinder.

 


Dennoch macht das Laufen Laune, vor allem auf den ersten 30 Kilometern. Liegt natürlich auch am Wetter, denn die Sonnenstrahlen sorgen für jede Menge Frühlings- und damit auch Glücksgefühle. Ach Welt, ich könnte Dich umarmen! Udo neben mir ist von derartiger Stimmungslage weit entfernt. Er kämpft mit sich und der Grippe, jeder Arzt oder auch vernünftige Mensch hätte ihm von einem Start abgeraten. Aber sind wir vernünftig oder sollten wir es sein? Und Udo ist eh  Udo, wie ich den gebürtigen Sindelfinger seit Lappland kenne. Aufgeben ist nicht, nur der Besenwagen (hier sind es zwei Motorräder der allgegenwärtigen Polizei) könne ihn zur Aufgabe zwingen, sagt Udo. Und so quält er sich, meine motivierenden Worte im Ohr. Da gerät selbst das mächtige Atlas-Gebirge zur Nebensache, das am Horizont immer wieder auftaucht. Oder die Kinder am Straßenrand, die die Läufer immer wieder anfeuern. Ansonsten ist es aber ruhig.

Zweieinhalb Kilometer nach jedem Getränkestand folgt eine Schwammstation. Bei den Temperaturen, die stetig steigen und später um die 26 Grad im Schatten erreichen sollen, eine feine Sache. Die Menschen sind überall freundlich, und nach etwa 15 Kilometern gibt es auch endlich feste Nahrung, mein Körper benötigt Kohlenhydrate und Mineralstoffe. Die Auswahl ist zugegeben etwas bescheiden. Es gibt Mandarinen, Datteln, Rosinen - und das war´s auch schon. Wobei alles sehr schmackhaft ist, vor allem die Rosinen. Dennoch fehlen mir Bananen, auch die Fruchtsäure der Mandarinen ist nicht so mein Fall. Aber so sind sie halt, die verwöhnten Europäer...

 


Irgendwo zwischen Km 21 und 30 schickt mich Udo voraus, jeder soll ab jetzt sein Tempo laufen. Mir ist nicht wohl dabei, will Udo in seiner Verfassung nicht alleine lassen. Aber wie sollte ich ihm, dem erfahrenen Läufer in dieser Situation wirklich helfen? Also mache ich Tempo, fühle mich noch gut. Bis nach Kilometer 30. Jetzt werden die Straßen breiter und länger, psychologisch ungünstig, die Hitze saugt zudem unerbittlich das Wasser aus den Poren. Vielleicht habe ich zu wenig unterwegs getrunken, jedenfalls fühle ich mich schlapp, die Beine werden schwerer und schwerer. Wieder bewahrheitet sich das, was ich immer sage: Marathon bleibt Marathon, auch nach über hundert Wettkämpfen sollte man nie den Respekt vor so einer Distanz verlieren.

Mir fehlt jetzt Cola, irgendein Iso-Getränk, oder eine salzige Brühe. Also doch wieder Sidi Ali, ein paar Datteln, und rein in die letzten Kilometer. Inzwischen dürfen auch die Autos und Mopeds wieder fahren, aber nur auf einer Spur. Die andere bleibt den Läufern vorbehalten, bis es schließlich auf die Zielgerade geht, einen aufgeblasenen Zielbogen durchquerend.

 


Das Zeremoniell ist in Marrakech nicht anders als in Paris, Freiburg oder Florenz: die erfolgreichen Matadoren bekommen eine Medaille umgehängt, werden durch einen Zielkanal geschleust, und ganz zum Schluss mit Verpflegung versorgt. Natürlich wieder Sidi Ali, Mandarinen, Datteln. Ein paar Minuten später hat es auch Udo geschafft, wir umarmen uns, mein großer Respekt ist ihm sicher. Wir platzieren uns am Straßenrand, ruhen uns aus, genießen die Sonnenstrahlen, sowie das Glück, dies erleben zu dürfen. 

 

 

Informationen: Marrakech Marathon
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