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Laufberichte

Im lieblichen Tal der Valnerina

 
Autor: Joe Kelbel

Seit Jahren begeistert mich das Firmengebäude auf der anderen Flußseite. Es sieht aus, wie eine Luxusschreibmaschine.  „Galleto“ steht in großen Lettern auf dem Prachtbau von 1929. Deswegen dachte ich, es sei eine Keksfabrik. Aber nein, “Galetto“ ist weder Keks noch Eis, sondern ein Brathähnchen.  Brathähnchen gehört zu EON, Brathähnchen ist ein Elektrowerk, das das Wasser des Flusses Velinos nutzt. Eigentlich sollte sich Velino weiter oben mit Nera vereinigen (dazu gleich mehr), aber  meistens stürzt er sich erst auf die Turbinen und dann in die Nera. Das macht ihn ganz wild und die Kanuten finden  hier ein vortreffliches Trainingsrevier. „Imbarco Atleti, und Sbarco Atleti“ gilt also nicht uns. An  Drahtseilen hängen Torstäbe knapp über dem tosenden Wasser. Die grün-weissen für die Abwärtsfahrt, die rot-weissen für die anstrengendere Gegenrichtung.

Der folgen wir nun und kommen damit  zum Höhepunkt des Marathons: die Wasserfälle von Marmore, 271 v Chr von den Römern erschaffen. Aber nicht um Strom zu produzieren, sondern um die Sümpfe, die der Fluss Velino bildete, trockenzulegen. Etwa 8 Kilometer haben die Römer damals den Velino gekürzt.

Sehr viel mehr gefällt mir diese Entstehungsgeschichte: Die hübsche Nera verliebte sich in den Hirten Velino. Juno (Gedenktag 14. 02.!), die Obergöttin der Römer, war auch scharf auf Velino und verwandelte Nera aus Eifersucht in diesen schönen Fluß. Velino, deswegen todtraurig, stürzte sich weinend vom Felsen Marmore, um sich mit der Geliebten Nera für immer zu vereinen. Bis in alle Ewigkeit stürzt er sich nun in das Tal der Nera. Theoretisch, denn das Elektrowerk Galleto, bzw Brathähnchen, braucht Velino. Und so darf er sich nur zwischen 12 und 13 Uhr und zwischen 16 und 17 Uhr auf Nera stürzen. Heute ein bisschen öfter, denn wir haben Marathon.

Bei km 10 ein Verpflegungspunkt, 500 Meter weiter ein VP für die Halbmarathonläufer, die schon wieder Richtung Terni laufen, aber durch den Strassentunnel, nicht über den Uferweg. Der ist nur für die Hochläufer.

Bei km 12,5 ist der Wendepunkt für die Halben. Wir Marathonläufer laufen weiter die Strasse hinauf. Es wird nun schön ruhig. Rechter Hand plättschert die süsse Nera, an ihrem Ufer in den Bäumen sitzen Singvögel. Ihr Gesang ist betörend, vielfältig und glasklar. Man erkennt deutlich den Frühlingsgesang der Amseln, das Durcheinander der Stare, die kleinen Grüppchen der Lerchen. Es müssen Millionen Singvögel sein, die in diesem frühlingshaften Tal auf ihren Weiterflug warten. Zwei Mädchen laufen einem Rotkehlchen hinterher.

Kein Auto stört die Klänge der Natur, auch mein leises, einsames Tapp Tapp nicht. Links klebt Collestate, darunter, vor der kleinen Taverne, steht wie jedes Jahr der Polizei-BMW. Die Besatzung ist beim Frühschoppen. Für sie gibt es Porchetta, Brötchen mit Spanferkel gefüllt. Für uns gibt es Mortadella am VP, Cola Tee, Iso (Salti) und jede Menge Gebäck, natürlich auch die Cantuccini, die Mandelsplätzchen. Ich esse eines der feinen Salamiwürstchen, die im Starterbeutel lagen.

Bei km 15 kommen wir nach Casteldilago (Schloss am See). Ein Schild zeigt nach „Colleporto“, also Hafenhügel. Rätselhaft, es gibt weder See, noch Schloß. Das gab es vor 2300 Jahren: 271. v. Chr. leitete der Konsul den Fluss Velino um und ohne Velino kann die Nera den See nicht bilden. Oben am Felsen, etwa 20 Meter über uns, sind die Ringe für die Befestigung der Schiffe im Hafen sichtbar, 2300 Jahre alt.

Wir biegen nun rechts ab in das ehemalige Flußtal des Velino, das ist ganz rechts deutlich sichtbar an einem teifen Durchbruch im Kalkstein. Arrone war der Familiensitz der Arroni, die diese Handelsstrasse zwischen den Abruzzen und dem Herzogtum Spoleto überwachten. Arrone besteht aus zwei Ortsteilen. Hoch über uns, links der Ortsteil La Terra innerhalb einer mittelalterlichen Burg.

Wir laufen zunächst zur Kirche Santa Maria. Das Portal ist aus dem 15. Jahrh. Am Vortag war ich in der Kirche und habe Fotos der wunderbaren Fresken gemacht. Sie wurden vor 700 Jahren von Vincenzo di Benedetto, der linken Hand von Raffaello Sanzio da Urbino (für uns Raffaello) gemalt. Wer mit Raffaello nur eine Süßigkeit verbindet: Raffaello (1483-1521) war Bauleiter des Petersdoms. Die Fresken sind Originale. Was weg ist, ist weg und wurde nicht restauriert. Ganz große Klasse, muss man gesehen haben!

Meine Tour durch das mittelalterliche Arrone habe ich am Vortag gemacht. Es war mit eine verdammt große Freude, in den schmalen Gassen zu stöbern und Kleinigkeiten zu entdecken, die sogar mich alten Haudegen begeistern und dieses Laufreviers  so einmalig machen.

Dann geht’s zurück auf die Strasse im Tal der Nera. Die Bergsiedlung Montefraco war einst eine Festung der Langobarden: Castello di Bufone, oben links, auf dem Berg, dann kam Otto der IV. Der Welfe versuchte von Italien zu retten, was zu retten ist. Wir erinnern uns: Das Heilige Reich Deutscher Nation reichte bis Sizilien, nannte sich so, weil der Deutsche Kaiser den Schutz des Papstes garantierte. Von der Burg blieben nur zwei Tore, aber auch ohne Burg ist das Bergdorf beeindruckend.

Wir gelangen nach Ferentillo, dem Wendepunkt unserer Strecke. Der Ort besteht aus zwei Festungen (Rocca), die sich gegenüberliegen und den Taleingang bewachen, darüber die schneebedeckten sybillischen Berge.

Valter Mezzalira überholt mich. Er, er ist ein Fan von Marathon4you, und erzählt mir, dass er vor jedem Lauf in Deutschland erstmal unsere Berichte durchforstet.

Zunächst geht es nach rechts zur Festung Precetto. Auf einer Bank sitzen drei gestandene Italiener und halten ihre wohlgeformten Bäuche ich die Sonne. Trüffel und Forellen haben ihre Körper geformt.

Ganz andere Körper befinden sich in der Krypta der Kirche San Stefano. Sie hatten im Film „Nosferatu - Phantom der Nacht“ ihren Auftritt: Mumien, natürliche Mumien. Einzigartige Bodenflora und klimatische Bedingungen haben die Leichname an diesem Ort nicht verwesen lassen. Beeindruckend. Egal, wie viele Marathons ich laufe - am Ende sehe ich genauso aus. Nein, der Dicke ist besser erhalten, die Haut wurde vom Fett besser konserviert.

3,5 Euro kostet der Eintritt, dafür bekommt man ein unappetitliches Stück Papier in die Hand, in dem beschrieben ist, wer die Toten waren und dass der Mörder des Ermordeten in der Vitrine daneben liegt. Die Vitrinen sind offen, die Luft muss zirkulieren, man könnte sie anfassen, wenn man könnte. Absolut sehenswert!

Weiter geht die Reise hinüber zum Ortsteil Martarella. Gerüchteweise soll von den beiden Türmen der Talseiten Ketten gespannt gewesen sein, zwecks Zolleinnahmen. Wir laufen zunächst durch die schmale Schlucht hindurch Richtung Nationalpark Sybillische Berge. Hier muss die Abtei Abazia di San Pietro in Valle aus dem 8. Jahrhundert sein.

Ich muss mich jetzt aber auf meinen Laufstil konzentrieren, denn hinter mir höre ich deutsche Töne. Mir ist klar, dass mich die beiden Mädels Sabine Kröning und Andy Weber (was kann ich denn dafür? Ist halt so!) ansprechen. Sie haben Geburtstag, deswegen positioniere ich die zwei Hübschen vor der Haustür vom Signore Paletti: „Hey, ich lade euch auf ein Bier oben am Markplatz ein!“ „ Danke, aber wir werden im Ziel erwartet!“ Klare Absage und ich falle von Platz zwei der deutschen Wertung auf Platz vier. Aber auch  ich werde im Ziel erwartet, und natürlich oben in Ferentillo, in meiner Lieblingsbar.

Als ich meine Gespräche in der Dorfkneipe beendet habe, erscheint mein mir wohlbekannter Polizei-BMW für einen Espresso. Schnell laufe ich weiter, da überholt mich der Besenwagen (servizio scopa). Ich muss aber keine Angst haben, denn 6 Stunden beträgt das Zeitlimit und ich bin auf Kurs 4:30. Das hätte ich auch halten können, denn es geht ja  leicht bergab. Aber,   ob verheiratet, oder nicht, der Frühling lockt. Da wird so mancher Läufer willenlos. Allein das Foto mit den zwei weiblichen Carabinieri hat 10 Minuten gekostet. Die wollten natürlich auch ein Foto von mir, natürlich meine FB-Adresse. Da muss ich Laura und Iliaria, die 5- Stunden Pacerinnen, mal ziehen lassen.

Erst zwei Kilometer vor dem Ziel beweise ich, dass ich mit meiner Geschwindigkeit den Raum krümmen kann! Wer, wenn nicht ich, kann so viele Gravitationswellen auslösen? Ich bin nobelpreisverdächtig! Die Ziellinie krümmt sich mir entgegen, die Menge brodelt, Francesca umarmt mich. Kaum ist das Foto mit Francesca öffentlich, bekomme ich Zuschriften, warum mir und nicht Francesca so  kalt war.

Nun Leute, ich komme gerade aus dem Tal der Nera. Das römische Reich lebt und dieser Marathon bleibt, was er ist: meine Nummer Eins!

 

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Informationen: Maratona di San Valentino
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