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Laufberichte

„Der ist ja blau!“

20.06.10
Autor: Joe Kelbel

Der Bruche-Kanal, der parallel zum gleichnamigen Flüsschen verläuft, stammt aus der Zeit Ludwig XIV, der im Elsass eine Reihe von festen Plätzen und Festungen (Zitadelle von Straßburg) bauen ließ und diesen Transportweg brauchte. Am Ufer sitzt ein Angler und raucht. Ich frage ihn, ob er auch Sport mache, da öffnet er seinen zahnlosen Mund, dass ihm beinahe seine Gitane Mais herausfällt und brüllt mir ein fröhliches „Allez-y Cron Magnon!“ entgegen.

Es ist nur lustig auf der Strecke, die Kinder wollen abklatschen und bekommen die quitschende Plastikkeule auf den Kopf. Ich bekomme hier und da ein Gläschen Wein, Kuchen oder gebratene Bratwurst....äh...Bratwurst?  Ey, Cro-Magnon!  Der Jäger wird wach! Die war ja spitze, die Bratwurst! Also macht der Urmensch („Le Savage“, der Wilde, wie die Zuschauer mich auch nennen) eine entschlossene Kehrtwende und läuft  zurück.

Da kommen Willi und Anke angerannt. Willi, der Sportfotograf,  hat in Bad-Arolsen meine Nikolausmütze vor die Kameralinse geweht bekommen, das Foto war der Hit in der örtlichen Presse. Letzte Woche hat er mir die Mütze feierlich in Biel überreicht, und nun steht er hier im knappen Tigerhöschen vor mir. Unser Outfit ähnelt sich, aber niemand würde ihn als Cro-Magnon bezeichnen. Und so stehen wir dort am Verpflegungsstand, futtern Würstchen, trinken Wein und kringeln uns vor Lachen.

Scharrachbergheim. Hier stehen die Halbmarathonis und warten auf ihren Start. Ich habe noch nie einen so begeisterten Empfang gehabt. Keuleschwingend laufe ich durch das Spalier der jubelnden Menge, links und rechts winkend, es ist eine grandiose Vorstellung. Ich habe Tränen in den Augen als Eric, der Sträfling,  mir zum Glück ein Weinglas entgegenhält. Ach so, es ist wieder einer der zahllosen Verpflegungsstände hier.

Als mich die Halbmarathonis überholen, rufe ich jedem zu, er solle ja viel trinken, das wäre wichtig bei einem Marathon. Die feiern mich ja, als wäre ich ein Supermann: „Bon Courage Cro-Magnon!“ rufen die mir zu. An der nächsten Verpflegungsstelle steht dann auch noch ein ganzes OP-Team und löffelt Nudelsalat. Wir, die medizinische Abteilung, bestätigen uns denn auch gegenseitig, die grundlegende Theorie von der Wichtigkeit des „viel Trinkens beim Marathon“, als mich der Klaus überholt. Noch nie hat mich der Klaus überholt, irgendwas macht er heute anscheinend falsch.

In Odratzheim war der Klaus dann weg, gerade als ich die Zweige  der Süsskirschenbäume von deren schweren Lasten befreien musste. Eigentlich wollte ich ihn noch vor Marlenheim warnen. Im 30jährigen Krieg hat nämlich  die lokale Bevölkerung eine Kompanie der schwedischen Truppen  mit Wein abgefüllt und dann hinterrücks abgeschlachtet. Aber nun muss er sehen wie er allein überlebt, ich jedenfalls bleibe am Munsterkäse kleben und lache mich kaputt, was für Gestalten mich nun einholen.

Bei der Verpflegungsstation bei km 36 ziehen mich starke Winzerhände aus dem Rennen. Ich, der Vertreter einer ausgestorbenen Höhlenbewohnerrasse, werde zum Genuß edler Speisen und Getränke gezwungen. Die Pastete in Blätterteig war nach einer halben Stunde weggefuttert, aber was dann die Winzerdamen credenzen ist schier  unglaublich: Hausgemachte Pasteten, die mir jetzt beim Schreiben immer noch das Wasser im Munde zusammenlaufen lasssen. Wildschwein-, Tunfisch-, Kaninchen und Geflügelpastete auf frischem Baguette, und wieder war eine halbe Stunde flöten. Mit 1:10 Std habe ich hier den längsten Boxenstopp meiner Marathonkarriere hingelegt, aber es war sowas von genial dort, eigentlich wollte ich nicht weiter. Aber  die Crémant-Vorräte von km 41 rufen! Und so sammelt sich eine illustre Jogginggemeinschaft (ja, wir sind dann nur noch gejoggt) und unter Absingen des gesamten Deutschen Liedergutes ziehen wir Richtung Crémantverpflegung.

Da entdecke ich Jennifer Mutschler. Sie sieht zwar gut aus, aber nur optisch, denn wir sind  schon bedenklich nahe an der 6 Std-Marke. Ich schiebe sie wortwörtlich bis zur nächsten Verpflegungsstation bei km 38 ( km 37 haben wir ausgelassen, da gab es nur Wasser und Iso). Während ich meine Energiereserven mit Muscatel und Lebkuchen auffrische, zieht sie weiter und wird mit 6:02 ihren ersten Marathon finishen, weit vor mir, denn wie gesagt, km 41 hat es in sich. Hier steht der Mann mit der Crémantflasche und lässt mich nicht weg.

Hier bei km 41 sammeln sich die Schlussläufer, der Besentraktor dreht in Sichtweite seine Runden, schafft es aber nicht, das „ schwierige Labyrinth“ der schnurgeraden Dorfstrasse zu durchbrechen. Wie ein mahnender Finger leuchtet der weisse Stuhl  auf seinem Anhänger, der heilige Thron, der dem Letzten gebührt.

Die Letzten waren wir dann doch nicht, aber Abdelkerim, der 60 kg schwere Sieger, der hat jetzt ein Problem. Denn die Weinwaage, auf der er saß, war ungenau. Und so hat der Abstinenzler nun die Aufgabe, 90 kg Wein zu verkaufen.

Mit der Freude vom schönsten, fröhlichsten und besten Marathon der Welt zu berichten, verabschiede ich mich und verziehe mich für meine überfällige OP in meine Cro-Magnon Höhle. Zum Sammeln der Wintervorräte wird „ Le Savage“ wieder present sein.

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Informationen: Marathon du Vignoble d'Alsace
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