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Laufberichte

White Marble Marathon: Be a marble hero

11.02.18 Special Event
 

Die italienischen Städte Carrara und Massa liegen eingerahmt von den Apuanischen Alpen in einer fruchtbaren Ebene nahe der Riviera, dem Tyrrhenischen Meer. Fast 200.000 Einwohner leben in dieser Provinz, die zur Region Toskana gehört und durch den Marmorabbau in aller Welt bekannt ist. Beide Städte liegen landeinwärts und haben einen „Anhang“ am Meer, der den Namenszusatz „Marina“ trägt. Also „Marina di Carrara“ und „Marina di Massa“.Der „White Marble Marathon“ mit Start und Ziel in Marina di Carrara findet in diesem Jahr zum zweiten Mal statt. Für mich sind Läufe mit einem Abschnitt am Meer immer sehr anziehend. Nicht zuletzt reizte mich auch die Finisher-Medaille, die aus Marmor besteht und sich somit deutlich vom sonst üblichen Angebot abhebt.

Am bequemsten ist Carrara für Teilnehmer aus dem deutschsprachigen Raum mit einem Flug ins 50 km entfernte Pisa zu erreichen. Auch von Florenz und Genua aus sind nur 100 km zurückzulegen. Von dort geht es mit dem Regionalzug direkt nach Carrara. Oder man fährt gleich die gesamte Strecke mit der Bahn. Judith und ich sind leider zu spät dran: Die günstigen Flüge sind weg und die Züge wegen der bayerischen Winterferien ausgebucht. Also machen wir uns mit dem Auto auf die 700 km lange Fahrt.

Bei der Hinreise geht es auf der Staatsstraße 63 über den Apennin. Auf 1500 Metern liegt hoher Schnee und beim Cerretopass entdecken wir sogar ein kleines Skigebiet, das an diesem Wochenende rege genutzt wird.

Von dort geht es in einer Stunde mit schönen Ausblicken auf den Golf hinunter nach Marina di Carrara. Von frühlingshaften Verhältnissen zu reden wäre vielleicht noch ein wenig übertrieben. Aber die Sonne glitzert hell in den silbergrünen Blättern der Olivenbäume.

Die Startnummernausgabe liegt im Messegelände. Wie wir rätseln einige Läufer angesichts des Streckenplans. Erst anhand der Kilometermarkierungen kann man die Route mit ihren zahlreichen Schleifen durchschauen. Die gut gestaltete, aber nur auf Italienisch verfügbare Internetseite hatte auch mehrere Hotels mit Spezialkonditionen (Frühes Frühstück und Late Checkout) angeboten. Die Startertüte enthält ein nettes weißes Laufshirt, eine Flasche Fonteviva-Wasser in Spezialedition zum Marathon, Zwieback, Pulver zur Herstellung eines Mineralgetränks und ein Geltütchen.

 

 

Start und Zielbereich liegen quasi im Zentrum von Marina di Carrara auf der Piazza Nazioni Unite. Frösteln ist angesagt. Über Nacht hat es sogar etwas gefroren. Aber es deutet sich schon an, dass die Sonnenstrahlen uns heute noch Temperaturen über 10 Grad bescheren werden. Bestes Laufwetter also.

Ohne großes Tamtam geht es um 9:00 Uhr auf die Piste. Eine 11-km-Runde durch Marina di Carrara steht auf dem Programm. Vorbei an der Kirche der Heiligen Familie an der Piazza Gino Menconi und durch das historische Herz es Ortes mit netten älteren Häusern laufen wir in Richtung der Berge mit den ersten Ausblicken auf die schneebedeckten Gipfel der Apuanischen Alpen. Ein Läufer trägt das T-Shirt der 10 Marathons am Lago di Orta, die an zehn aufeinanderfolgenden Tagen absolviert werden können. So bleibt man im Urlaub immer in Bewegung.

 

 

Und da wir die breite Straße ganz für uns haben, kann man das auch ohne Gedränge genießen oder gleich mal richtig aufdrehen. Die Küstenautobahn A 12 verläuft hier aufgeständert mitten durch die Ortschaft. Vereinzelt schauen auch Einwohner zu und begrüßen Bekannte. So wohnt man also hier am Meer. Nette Häuschen und natürlich auch Wohnblöcke. Am großen Supermarkt vorbei, dann km 7,5: Wir sind erstmals am Meer! Italienisch-klassisch mit aneinandergereihten Balneari (Badeanstalten), aus denen man sich im Sommer eine aussuchen kann. Mit Vollversorgung, bestehend aus Restaurant, Umkleiden, Schirmen, Unterhaltungsprogrammen, eventuell Pool und Parkplatz. Im Winter ist hier fast alles eingemottet. Nur einige Restaurants haben geöffnet. Mit Holz verkleidete Häuser trotzen dem schmirgelnden Sand der Winterstürme. Dahinter läge der schöne, breite Sandstrand mit Ausblick auf den Golf von La Spezia und auf die Landzunge mit den Cinque Terre.

In die andere Richtung liegt vor uns der Hafen von Carrara. Ich hatte ja einen Sporthafen erwartet. Hier handelt es sich jedoch um die Anlage, in welcher der Marmor verladen wird. Laut Wikipedia immerhin der bedeutendste Umschlaghafen für Natursteine in Europa. Km 11 führt erneut am Startbereich vorbei. Dann kommt quasi der Marmor- und Industrieschlenker. Erst Firmen, die riesige Marmorplatten verkaufen. Anderswo sieht man Autos hinter den Scheiben nobler Geschäfte, hier ist eben der weiße Marmor der Verkaufsschlager und das schon in der Römerzeit. Die Trajanssäule in Rom zum Beispiel wurde aus Carrara-Marmor gehauen.

 

 

Das altrömische Luna westlich von Carrara lebte schon damals sehr gut von den Steinen. Nach einer ruhigeren Phase ging es dann im Mittelalter mit dem Bau der Kathedrale von Pisa weiter. In der Renaissance gehörte Michelangelo, der ja nicht nur Maler, sondern auch Bildhauer war, zum Kundenkreis und suchte sich sein Material an Ort und Stelle selbst aus. Fünfzig Sorten des weißen Marmors soll es geben. Ein großer Block kostet zwischen 1.500 und weit über 10.000 Euro. Der Statuario-Marmor mit gelben Streifen wird aufgrund seiner hohen Qualität nur noch von Bildhauern verwendet. Zu knapp ist inzwischen sein Vorkommen. Das weiße Marmorpulver wird übrigens auch für Zahnpasta verwendet, kleine Steine werden zu Zierkieseln geschliffen. Kurz vor der kleinen Brücke über den Torrente (Sturzbach) Carrione sehen wir auch ein altes Wasserrad. Viele technische Erfindungen wurden hier gemacht, um das Gestein einfacher bearbeiten zu können. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Marmoreisenbahn ans Meer gebaut, um die bis dahin verwendeten Ochsengespanne abzulösen. Zwei Ochsen konnten einen 800-Kilo-Block ziehen.

Wir überqueren den Bach. Die ersten wenigen Höhenmeter. Schön flach ist es hier sonst. Ich bin heute bester Dinge. Genieße den Lauf. Die Sonne wärmt schon. Ich warte auf spannende Ausblicke auf die Marmorbearbeitung und bin etwas enttäuscht: So richtig viel zu sehen gibt es nicht. Wohl auch, weil sonntags nicht gearbeitet wird. Ablenkung bei der Zeitnahme. Der Straßenuntergrund ist nicht der beste. Vielleicht ein Zeichen der angespannten wirtschaftlichen Situation? Marmor ist wohl extrem von der allgemeinen ökonomischen Entwicklung abhängig. Hier wird zuerst gespart. So stieg die Arbeitslosigkeit in den Steinbrüchen während der jüngsten Finanzkrise stark an. Außerdem macht die Konkurrenz aus Brasilien, China und Indien sowie dem recht nahe gelegenen Verona dem Carrara-Marmor zu schaffen. Die schwere Arbeit in den Steinbrüchen führte immer wieder zu Aufständen der Beschäftigten. Auf unserer Sightseeingtour nach dem Marathon sehen wir ein Denkmal für die „Anarchosyndikalisten“, die hier erfolgreich für bessere Arbeitsbedingungen und besseren Lohn kämpften und kämpfen.

Jetzt laufen wir aber erst mal weiter Richtung Meer über die breite, für den Autoverkehr komplett gesperrte Straße, die nach dem Geologen und Mineralogen Domenico Zaccagna benannt ist. Auflockerung erfährt das Feld durch eine Vielzahl von „non competitivi“. Dies sind die Teilnehmer des Volkslaufs ohne Wertung, der über 10 km führt. Ein junger Mann verkündet stöhnend, er sei völlig am Ende. Ist ja nicht mehr weit.

Km 16, wir sind wieder an der Küste unterwegs, Richtung Rom sozusagen. Die Ortschaft Partaccia begrüßt uns als Ort der Campingplätze. Unter schattenspendenden Pinien lässt sich der Sommer hier gut geniessen. Für uns hat man schon mal Sonnenschirme und Liegen aufgestellt. Auch ein Rettungsboot steht bereit. Und Zuschauer sind auch wieder da. Endlich geht es direkt ans Meer. Die Sonne strahlt uns ins Gesicht. Links einige Ferienkolonien, inzwischen verfallene Gebäude, in denen Anfang des letzten Jahrhunderts die Kinder aus den tristen Großstädten ihren Urlaub am Meer verbrachten. Heute nicht mehr ganz zeitgemäß. Wenigstens warten auch hier einige Häuser auf Instandsetzung. Wir kommen nach Marina di Massa, das etwas mondäner wirkt als Marina di Carrara. Viele Zuschauer begrüßen uns, die Halbmarathonis und die „non competitvi“. Hier trennen sich jetzt unsere Wege.

 

 

Am Fluss Frigido entlang jagt das Grüppchen nun landeinwärts gen Massa. Die Vier-Stunden-Pacer machen Stimmung, geben Tipps. Leider in einem mir unverständlichen Italienisch. Die Spaziergänger werden zum Jubeln aufgefordert. Dann geht es wieder auf die Straße. Die Drei-Stunden-Pacer kommen uns entgegen. Wir freuen uns auf die Altstadt von Massa,  2,5 km und lockere 70 Höhenmeter entfernt. Unsere Stimmungsmacher nehmen das Tempo etwas raus. Ich bleibe bei meiner Geschwindigkeit und entfleuche ein wenig. Bei Km 26 erreichen wir die Stadt Massa. Die Post residiert in einem Backsteingebäude mit großem Turm, der an eine Kirche erinnert. Erste Hupkonzerte der Autofahrer sind nun zu hören, denn der Marathon legt hier den Ost-West-Verkehr lahm. Wir winken den „motoristi“ freundlich zu. Die Stadtpolizisten sind allesamt gut aufgelegt. Eine Polizistin verlangt die Papiere von einem Autofahrer, der wohl etwas zu Bösartiges gesagt hat. Ein Fall von Beamtenbeleidigung?

Die Pacertruppe holt mich wieder ein. Vor uns die Piazza degli Aranci, der große Hauptplatz der Stadt, eingerahmt von Orangenbäumen. An seiner südlichen Seite steht der Palazzo Cybo-Malaspina mit einer in barocker Manier rot-gelb-weiß gestalteten Fassade. Dann schwungvoll die Via Alberica leicht bergab, vor uns auf dem Felsen das mittelalterliche Castello Malaspina di Massa,  Hauptsitz der Herrscherdynastien Malaspina und Cybo-Malaspina. In der Parallelstraße laufen wir wieder zurück und leicht bergauf. Linkskurve. Hat jemand den berühmten Dom auf der rechten Seite gesehen?

Ich fotografiere, aber hinter uns kommt gerade kein Läufer mehr. Weiter. Am Hauptplatz Abklatschen mit kostümierten Kindern, es ist Karneval. Oft gibt es auch Konfetti auf unserem Weg. Bei km 28 das Standbild des Giuseppe Garibaldi, der zu den populärsten Figuren der italienischen Einigungsbewegung „Risorgimento“ gehört. Das Fürstentum Massa-Carrara trat 1861 der Italienischen Republik bei, so wie alle Fürstentümer. Nur San Marino hat sich bis heute geweigert.

Von nun an geht’s für uns bergab. Die Pacer laufen die Verspätung wieder rein. Alle Entgegenkommenden werden begrüßt, darunter auch M4Y-Kollege Anton Reiter aus Wien, natürlich auch mit Kamera unterwegs. Km 30: Wir verlassen die Pendelstelle und kommen auf die breite Via Dorsale. Immer noch sind alle Straßen komplett für die 300 Marathonis gesperrt. Nur wer langsamer als 8:30 min/km ist, muss auf den Fußweg. Es folgen vier recht uninteressante Kilometer. Die Pacer rufen den weiblichen Zuschauern zu, dass die Mädels in Massa viel stimmungsvoller anfeuern könnten als die aus Carrara. Manchmal wirkt es und die Damen fühlen sich zu mehr Enthusiasmus angestachelt.

Ich werde schwerfälliger und muss abreißen lassen. Schade. Km 34, es riecht nach Ziegen. Da muss ein Stall sein. Nettes, einfaches Viertel hier. Es folgt die bekannte Straße, die Richtung Meer führt. Und dann auch noch mal der Kilometer durch das Industriegebiet. Leicht gekürzt. Die Jungs von der Zeitnahme harren tapfer aus.

Ich sehe Henry in seinem Nadelstreifenanzug. Er schwenkt seinen Hut. Hinter ihm entdecke ich Judith. Bin mal gespannt, wann die beiden mich einholen. Ich kämpfe etwas missmutig, denn ich werde mehr als 4 Stunden brauchen. Der Rest der Strecke vermag dann nicht wirklich zu motivieren.

 

 

Die Verpflegungsstellen sind gemäß den Richtlinien des italienischen Leichtathletikverbandes FIDAL alle 5 km aufgebaut. Bestückt mit Wasser, auch in Flaschen vom Titelsponsor Fonteviva. Die „sali“, also Isogetränke, schmecken etwas verdünnt. Bananen, anderes Obst, Panettone. Dazwischen Schwämme.

Wieder am Hafen. Aus einem alten Caravan kommt Musik, die einzige an der Strecke. Noch mal unter Palmen am Meer bei den Balneari entlang. Henry grüßt freundlich beim Überholen und ist auf und davon. Ich teste aus Verzweiflung ein Powerdragee, das man sich in die Backen steckt und langsam im Mund zergehen lässt. Und dann? Die Mädels an der Schwammstelle 7,5 km amüsieren sich köstlich über meine Hamsterbäckchen. Ich warte noch immer darauf, dass das Marshmallow-artige Teil sich auflöst und mir die ersehnte Power bringt.

Das grandiose Finale kündigt sich  auf der Viale Cristoforo Colombo, begleitet von vielen dick vermummten Radsportlern, an. Noch ein kurzes Stück durch eine Flanierstraße. Hier interessiert sich niemand für uns. Ignoranten. Dann der Zielsprint. Eine Familie jubelt mir zu. Immerhin.

Auf den Zielbogen zu, dem gerade buchstäblich die Luft ausgeht. Knapp über 4:03 Stunden komme ich an. Die Medaille: Ein echtes Stück Carrara-Marmor mit der Aufschrift „Be a Marble Hero“! Und dann eine perfekte Zielverpflegung. Sogar ein warmes Gericht fehlt nicht, eine Art klein geschnittener Pfannkuchen mit Pesto Genovese. Und es reicht sicher für alle, besonders die riesige Mortadella beeindruckt. Nur einSponsor für Bier fehlt leider.

 

 

Abends treffen sich fünf der sieben deutschsprachigen Läufer zu einem Aperitif und Bierchen aus der Partnerstadt Ingolstadt in der vermutlich angesagtesten Bar Marina di Carraras. Die Manöverkritik fällt durchweg positiv aus: Eine abwechslungsreiche Strecke, teilweise am Meer entlang, durch die schöne Altstadt von Massa und dann die fantastischen Ausblicke auf die Steinbrüche und die schneebedeckten Berge. Italientypisch mit wenig Zuschauern und auch mit  einigen uninteressanteren Abschnitten. Preislich im günstigen Bereich von 35 bis 55 Euro.

Also bin ich nun auch ein Marble Hero. Hartfüssler bin ich ja schon.

 


 
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