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Laufberichte

Very British

22.04.12
Autor: Klaus Duwe

Ulrich Sauer, London-Marathon-Experte in Diensten von interAir (www.london-marathon.de), hat uns gewarnt: „In den Vororten  kann es auch schon mal etwas ruhiger sein.“  Wenn er das hier gemeint hat, bin ich mal auf die Stadt gespannt.  Es ist nicht so, dass die Leute an der Straße stehen und schauen. Nein, die gehen voll mit. Die sind abends so kaputt, wie die Läufer.

Schreien die Frauen und Mädels nun vor Vergnügen oder Entsetzen? Ein Läufer im Leopardenlook zeigt seinen blanken Hintern. Und was denken die Fans erst von mir, der mit gezücktem Fotoapparat dem Nacktarsch hinterher hechelt?  Mir egal. Glauben tut mir das sonst ja keiner. Auch die blau-weiße Rautenfahne, schüchtern aus der Menschenmasse gehalten, muss aufs Bild. 10 Kilometer werden angezeigt. Schon? Ich bin doch gerade erst losgelaufen.

Rechts das Old Royal Naval College , seit 1997 UNESCO- Weltkulturerbe, links im Greenwich Park das Queens House, das zusammen mit dem gegenüber liegenden College zu den bedeutendsten Barockbauwerken in England zählt. Dann machen wir einen Abstecher zum Greenwich Peer, wo die „Cutty Sark“, ein 1869 fertiggestellter Teeklipper, auf einem Trockendock liegt.  Massive Absperrungen mit Sicherheitszonen sind notwendig, um tausende tobende Zuschauer in Schach zu halten. Unglaublich.  Mit bunten Ballons haben die verschiedenen Organisationen ihre Bereiche markiert und halten Bilder ihrer Helden auf der Strecke hoch.

Die Streckenverpflegung ist erwähnenswert. Nicht weil sie so gut ist, sondern damit man sich darauf einstellt. Es gibt nur Wasser und Iso, an zwei Stellen Gel. Wer gewohnt ist, unterwegs was zu essen, muss sich das einstecken oder sich darauf verlassen, dass er von den Zuschauern gefüttert wird. Die Chancen sind gut. In Schüsseln, Tellern und Tabletts wird tausendfach alles angeboten, was von Weihnachten übrig ist. Nein, Quatsch. Ausgesprochene Leckereien hält man für die Marathonis bereit:  Schokolade, Fruchtgummis in den exotischsten Geschmacksrichtungen, Orangen, Bananen …  Aber Achtung! Was einem freundlich lächelnde uniformierte Damen da in der offenen Hand anbieten, ist nichts zu essen, eher für’n Arsch. Vaseline nämlich. Die Damen sind von der Ambulance.

Wir folgen der Themse, ohne den Fluss, der London mit der Nordsee verbindet, zu sehen. Manchmal weist ein Ladekran oder Lagerschuppen auf die Flussnähe hin. Aber das Umfeld interessiert hier sowieso niemand. Man genießt den Marathon, entweder an, oder auf der Strecke. Auf Dächern, Treppen und Mauern suchen sich die Zuschauer Plätze, packen ihre Lärmutensilien und Süßigkeiten für die Läufer aus. Noch nie habe ich so etwas erlebt. Wiederhole ich mich?

Wie soll ich jetzt bloß den absoluten Höhepunkt ankündigen? Höhepunkt nicht alleine beim London-Marathon, sondern Höhepunkt in meinem Läuferleben? Kilometerlang ist bereits die meist dreireihige Menschenmenge rechts und links der Jamaica Road, vor uns sehen wir den fast fertigen, 306 m hohen Turm der Shard London Bridge, der einmal das höchste Gebäude der EU sein wird.

Wir laufen direkt auf eine hässliche Baustelle zu, um gleich scharf nach rechts abzubiegen.  Sofort bleibt mir vor Staunen die Luft weg. Märchenhaft, sagenumwoben und unwirklich wie Schloss Neuschwanstein sieht man die mächtigen, 65 m hohen Türme der Towerbridge.  Die Zuschauer beugen sich über die Absprerrungen, wollen abgeklatscht sein, Dir auf die Schulter klopfen, Dir gratulieren und Dir Glück wünschen. Ich will hier nicht weg. Ich bleibe auf der berühmtesten und schönsten Brücke, die ich jemals gesehen habe, stehen, schließe die Augen. Sofort ist ein Helfer zur Stelle: „You feel good?“ „Oh, yes, I feel very good!“  

Die kombinierte Hänge- und Klappbrücke ist 244 m lang und wurde 1894 fertiggestellt. Sie wird übrigens immer nur soweit geöffnet, wie es für die Passage der Schiffe erforderlich ist. Ganz geöffnet wird sie praktisch daher nur als Zeremoniell, zuletzt für den Trauerzug von Sir Winston Churchill und bei der Heimkehr des Weltumseglers Francis Chichester.

Links die City Hall, das Rathaus von London, gebaut von Norman Forster, dem der Berliner Reichstag auch die Glaskuppel zu verdanken hat. Zu verdanken haben die Welt und insbesondere die Londoner  dem genialen Architekten auch The Gherkin, das Gebäude der Swiss-Re.  Gherkin heißt Essiggurke. Verglichen wird das Gebäude aber mit ganz was anderem. Dazu behauptet man, die Idee habe Forster in der Badewanne gehabt. 

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