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Laufberichte

Very British

22.04.12
Autor: Klaus Duwe

Der Titel für meinen Laufbericht ist schnell gefunden. Als ich in Heathrow lande, regnet es. Typisch London halt. “Silver rain was falling down, upon the dirty ground of London town”. Schöner als Paul McCartney kann man das Londoner Wetter nicht besingen.  Aber so ist es diesen April ja überall in Europa.

Ich bleibe bei meinem  Titel auch, als es aufhellt und wir jeden Morgen mit strahlendem Sonnenschein begrüßt werden. Denn das, was ich die nächsten Tage hier erlebe, ist wirklich ganz speziell und  mit nichts, aber auch gar nichts zu vergleichen.

In den 60ern war ich der größte England-Fan auf dem Kontinent. Am liebsten wäre ich ausgewandert ins Land der Stones, der Beatles, Kinks, Who und wie sie alle hießen. Geschafft habe ich den (Katzen-)Sprung auf die Insel aber nie. Zum zweiten Mal träumte ich von der Insel, als ich vom Rock’n’Roller zum Runner mutierte. Aber die Möglichkeiten, beim London  Marathon dabei zu sein, sind sehr begrenzt.  Da ist es sogar leichter, eine Startnummer vom NYC-Marathon zu ergattern. Und das hat folgenden Hintergrund:

170.000 Anmeldungen gehen innerhalb weniger Tage jedes Jahr bei den Veranstaltern ein, so um die 25.000 werden schließlich ausgelost und 25.000 Startplätze werden für je 500 Pfund an Spendensammler vergeben. Man darf sich jetzt nicht vorstellen, dass die alle wie der Pumuckl mit der Spendenbüchse die Zuschauer abklappern. Nein, diese Läufer fordern Freunde, Bekannte, Verwandte, Arbeitskollegen usw. zu Spenden für ein bestimmtes Projekt auf. Auf diese Weise kamen im letzten Jahr 51,8 Mio. Pfund (rund 65 Mio. Euro!) zusammen. Damit ist der London Marathon die größte Charity-Aktion in England.

Lediglich einige Reiseveranstalter bekommen ein paar Startnummern. Deshalb ist der Ausländeranteil  beim London Marathon auch gerade mal  7 %. Beim New York City Marathon  sind es 51 %.  Wer fragt da nach dem Preis?  Die ausgelosten Einheimischen bezahlen 95 Pfund, Ausländer bei ihrem Reiseveranstalter 240 Euro. Der Preis ist vom Veranstalter  festgelegt.

Eine Stadtrundfahrt ist Pflicht. Ich sehe, höre und staune und fühle mich gleich wie zu Hause. „Dort hat Madonna eine Wohnung, auf dieser Uni studierte Mick Jagger ein paar Semester, das ist die Carneby Street, dort  Waterloo Station, die Abbey Road, hier Harrod’s, dort Sticky Fingers“ – so geht es in einem fort. Alle Leute kennt man, von den Plätzen, Straßen,  Palästen, Geschäften hat man gehört, sie sind Legende. Kensington, Buckingham, Westminster, Big Ben, Tower und Tower-Bridge …

Wie viele Einwohner London hat? 8 Mio., 9 Mio.? In Wahrheit weiß es keiner genau. Registriert sind nur die Erwerbstätigen. Es ist die größte Stadt der EU. Bezahlt wird in Pfund (= ca. 0,80 Euro), gemessen in Yards und Miles und gefahren natürlich links. Damit haben offensichtlich nicht nur die Kontinental-Europäer Probleme, denn an jedem Fußgängerüberweg ist auf die Straße gepinselt, in welche Richtung man schauen muss: „LOOK LEFT“, „LOOK RIGHT“.

Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln,  U-Bahn („The Tube“) und Busse, kommt man überall hin. Es gibt Einzel- oder Tagestickets für verschiedene Zonen. Bei einem längeren Aufenthalt lohnt sich  eine Oyster-Card. 

Die Startunterlagen gibt es auf der Marathon-Messe auf der Isle of Dogs (Messehalle ExCeL), Haltestelle ist Custom House. Je nachdem, wo man sein Domizil hat, ist man leicht eine Stunde oder länger unterwegs. Seine Startnummer bekommt nur gegen Vorlage der Meldebestätigung und seines Ausweises ausgehändigt. Die Zeitnahme erfolgt mittels kostenlosem Leihchip. Die Messe ist größer als die meisten, die ich so kenne. Pasta gibt es hier auch, 10 Pfund sind dafür fällig.

Gestartet wird der London Marathon im Greenwich Park in drei Startbereichen: dem roten, blauen und grünen.  Die Elite-Frauen starten um 9.00 Uhr, die Rollis um 9.25 Uhr, alle anderen um 9.45 Uhr. Der London-Marathon ist traditionell sehr stark besetzt. Paula Radcliffe lief hier ihren Weltrekord (2:15:25). Dieses Jahr sind die derzeit schnellsten Männer (Weltrekordler Patrick Makau und Frankfurt-Sieger Wilson Kipsang) am Start, dazu der zweifache Sieger Martin Lel. Bei den Frauen dürfte Mary Keitany nicht zu schlagen sein.

Das Gelände ist riesig und die Startbereiche mit entsprechend farbigen Ballons gekennzeichnet.  Der grüne Bereich ist der kleinste. Er ist Promis, Sponsoren und anderen Privilegierten  vorbehalten. Auch meine Nummer ist grün. Aber keine Angst, ich schreibe weiter für eure liebste Marathonseite. Ein wenig verloren komme ich mir vor. Denn die Promis, die ich so kenne (z. B. die Königsfamilie und die Stars der 60er) lassen sich nicht blicken.  Nur die Kinks lassen mit ihrem „Waterloo Sunset“ grüßen. Die vielen Fotografen und Kamerateams scharen sich um die verrücktesten Teilnehmer. Für viele geht es um einen Eintrag ins Guinness-Buch.  Einer erinnert an die Afghanistan-Kämpfer und will mit einem 7 m hohen Gebilde die 42 km laufen, ein Paar macht sich auf Stelzen warm und eine Läuferin übt für ihren Hula-Hoop-Marathon.  In eingeübter Joker-Pose präsentiert sich der Schweizer Alexander Herbst, laut Guinness-Buch der schnellste Marathonläufer im Hofnarrenkostüm (heute 3:01).

Die sonst üblichen Finisher-Shirts aus aller Welt sieht man nicht. Die Teilnehmer werben auf ihren Trikots für die Organisation, für die sie Spenden sammeln. Sie sind schon vor dem Lauf DIE Helden des Tages. Vor dem Zugang zum Startbereich werden sie von ihren Fans und Supportern verabschiedet, umarmt und geknipst.  Wer am London Marathon teilnimmt, ist wer. Statt der üblichen Frage „Wie schnell willst Du sein?“ interessiert hier nur: „Für wen läufst Du?“

Ich bleibe mit meinem marathon4you-Shirt unerkannt. Auch das ist typisch. Was außerhalb ihrer Insel passiert, bekommen die Engländer nicht unbedingt mit.

Auf Großbildschirmen gibt es Bilder von den anderen Startbereichen. Die Favoriten werden vorgestellt. Und plötzlich setzt sich das Feld in Bewegung. Keine Hymne, kein Loblied auf London, kein Kanonendonner. Also lauf ich mit. Mein erster Marathon seit 5 Monaten. Jeden anderen hätte ich sausen lassen, den hier nicht.

4000 Läuferinnen und Läufer mögen es hier sein, über 35.000 insgesamt.   Das Wetter? Very unbritish, strahlend blauer Himmel, aber noch einstellige Temperaturen. Genial. Die Menschen hier wohnen in schmucken Einfamilien- oder Reihenhäuschen mit viel Grün vor der Haustür. Keine Spur von Weltstadt oder Metropole. Nur die Stimmung ist gleich von Anfang an auf allerhöchstem Niveau. Keine Ahnung, wo die tausende Menschen rechts und links der Straße herkommen.  Wo der Senior mit gelbem Turban herkommt, weiß ich. Es ist Fauja Singh, er lebt in London. Ehrensache, dass der 101jährige in seiner Wahl-Heimatstadt den ganzen Marathon laufen will. Falls meine schlimmsten Befürchtungen eintreten und ich wegen meines Knies nicht weiter kann, werde ich am Streckenrand auf ihn warten und mit ihm den Rest erledigen.

Nach gut einem Kilometer kommen von rechts die blauen Läufer und überschwemmen die Vorortstraßen. Man sieht vor sich kaum noch den Asphalt.  „Humps! Humps! Humps!“ rufen deshalb die Helfer, halten rote Tafeln hoch und warnen vor Bodenwellen.  Zwei Kilometer weiter wird es noch besser, von links kommen die „Roten“, das Feld ist jetzt komplett und überschaubar.  Wir sind an der Themse, die Gegend gibt nicht viel her. Ein paar Wohnsilos, alte Kneipen, Ruinen und ein wenig Grün. Nur wer am Rand läuft, kriegt das mit. Die anderen sehen nur Läuferbeine, hören den Lärm der Fans. Noch nie im Leben habe ich in einer solchen Gegend so viele Menschen an der Straße gesehen. Der nächste Pub ist mit bunten Ballons geschmückt, eine Rockband (gleicher Jahrgang wie die Stones) gibt ihr Bestes. Und das hört sich saumäßig gut an. Auch Hula-Hooperin Sasha Kenney kriegt mächtig Sonderapplaus.

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