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Laufberichte

Ziel erreicht

21.01.12

Fotos: Klaus Duwe

Um das Ziel meines zweiten diesjährigen Marathons überhaupt erreichen zu können, muss ich erst einen Reisemarathon in Angriff nehmen. Im Winter ist in unseren Breitengraden die Auswahl an Laufveranstaltungen nicht gerade üppig. Das Navi ist nach Leipzig programmiert, und wie beim Laufen auf langen Kanten geht es bei Langstreckenfahrten in der Gemeinschaft besser. Ab Stuttgart sind wir zu dritt.

Die gleiche Anzahl Mitglieder muss ein Team haben, damit es beim Wintermarathon starten darf. Einzelkämpfer, Egoisten und Egomanen nehmen entweder einen Paradigmenwechsel vor oder bleiben außen vor. Als Laufende Reporter sind wir in der Regel als Einzelmasken unterwegs, damit sich unsere Leserschaft an Berichten von einer möglichsten breiten Palette von Veranstaltungen erfreuen kann. Umso mehr freuen wir uns, dass wir uns beim Frühstück im Hotel in vierfacher Teamstärke treffen. Wer mit wem ein Team bildet, ist schon im Vorfeld festgelegt worden. Ein gutes Gefühl habe ich dabei nicht. Ich bin nicht gerne der Bremsklotz für andere, besonders wenn es sich dabei um wesentlich schnellere, in diesem Fall um unsere beiden schnellsten, Läufer handelt, die mit einem adäquaten Teammitglied beste Chancen auf einen Podestplatz in der Ü150-Wertung hätten.

Vor meinem gesundheitlichen Knick im vergangenen Jahr wäre ich zwar auch das schwächste Glied in der Kette gewesen, hätte das Vorhaben Podest aber nicht schon von vornherein jeglicher Chancen beraubt.

Wenn ich bei einem Marathon oder Ultralauf an den Start gehe, habe ich folgendes Ziel: Aus eigener Kraft das Ziel zu erreichen und auf dem Weg dorthin möglichst viel Spaß und Genuss zu haben. Ehrlicherweise muss ich einräumen, dass Genuss und Spaß dann und wann auf der Strecke bleiben. Dass auch ich auf der Strecke blieb, ist erst einmal,  im letzten Jahr beim UTMB nach 85km,  passiert.  Nach der Zählweise  des 100 Marathon Clubs dürfte ich ihn auch zählen, doch ich ticke anders. Ich zähle nur, wenn ich das, was ich mir vorgenommen habe, auch schaffe. Deswegen stehen die Chancen gut, dass der heutige Marathon für mich ein ganz besonderer sein wird. Wenn ich den ins Ziel bringe, dann habe ich mich bei hundert Marathons und Ultraläufen erfolgreich als Finisher eingetragen.

Der Wintermarathon wird auf einem 5km-Rundkurs im Clara-Zetkin-Park ausgetragen. Start und Ziel sind beim Zentrum für Gesundheitssport, dessen gesamte Infrastruktur als Wettkampfzentrum genutzt wird. Allein schon wegen des Zeitpunkts der Austragung im Jahreslauf trägt der Wintermarathon seinen Namen mit voller Berechtigung. Wie wenn das nicht genug wäre, setzt pünktlich zum Start um 11.00 Uhr Schneeregen ein. Na, dann also: schnell losrennen damit mir nicht kalt wird. Das wäre die einleuchtendste Begründung für mein idiotisch schnelles Lospreschen. Mit der Herde und dem Gefühl, Anton und Klaus möglichst das Wasser reichen zu wollen, tue ich so, als ob ich das könnte. Kann ich auch – vorläufig.

Noch sind die 250 wetterfesten Ausdauersportler so nah zusammen, dass ich um die Warnung froh bin, die nach hinten gereicht wird. Ein paar Poller zieren die Laufstrecke und hätten durchaus das Potential, dem heutigen Vorhaben in jeglicher Hinsicht im Weg zu stehen. Nach der ersten Biegung am östlichen Rand des Parks steht der freien läuferischen Entfaltung nichts entgegen. Die feuchten Stellen auf dem Naturboden des Spazierwegs sind nicht der Rede wert. Nach ungefähr eineinhalb Kilometern geht es in spitzem Winkel auf den Rennbahnweg und dem Zaun der Galopprennbahn entlang. Beim Schild mit der zweiten Kilometermarke frage ich mich, wie lange ich diesen Galopp werde durchhalten können oder wie schnell ich auch so baufällig aussehe wie die Tribüne. Ob ich im Kreis meiner Reporterkollegen allenfalls auch eine so aufwändige Sanierung in Anspruch nehmen dürfte wie dieses über hundertjährige Monument?

Die Karawane der Läufer zieht auf einem mit Bauschutt-Schotter versetzten Weg weiter dem Elsterflutbett entlang, an der Einmündung der Pleiße vorbei auf den Schleußiger Weg. Dann geht es sehr scharf rechts, dafür ist auf der Fahrbahn ein Streifen für uns abgesperrt. Darauf geht es gleich über die Pleiße und bald schon wieder über die Elster. Danach dreht der Kurs nach rechts in nord-westliche Richtung und ist nicht nur von Bäumen flankiert, sondern überdeckt. Nonnenweg heißen diese eineinhalb Kilometer, auf welchen wir dem Wind und den Schneeflocken weniger ausgesetzt sind.

An der Anton-Bruckner-Allee kommt mir das Gesehene bekannt vor. Hier haben wir das Auto geparkt, bis zum Start- und Zieldurchlauf kann es nicht mehr weit sein. Im Tempo des gehetzten Affen kommen wir auf einen schon belaufenen Streckenteil. Diesem folgen wir rund 250m und werden dann vor der Sachsenbrücke nach recht gewiesen auf die kleine Schlaufe beim Kontrollpunkt und dem Verpflegungsposten vorbei.

Warmer Tee muss fürs Erste Mal reichen, ich will keine Zeit verlieren, und schon nehmen wir die zweite Runde in Angriff. „Wie wird das nur ausgehen, bei dem Tempo?“, frage ich mich. Es ist eine rhetorische Frage, denn ich weiß genau, dass ich das nicht lange so durchhalte. Ich versuche mir keine Blöße zu geben und unvermindert schnell dem Team vor uns zu folgen. Meine ganze Aufmerksamkeit gehört dem, was ich im Augenblick mache. Ich konzentriere mich aufs Laufen und zwangsweise auf die Elemente, die es mir dabei immer schwerer machen.

Wieder bei der Pferderennbahn ist erst ein Sechstel der Distanz um und ich fühle mich platt wie nach dem letzten Sechstel. Ob ich es nach diesem Antritt überhaupt schaffe? Wie analysierte Loriots Fachmann auf der Pferderennbahn doch so präzise: „Wenn er’s nicht schafft, dann hat er nicht gewollt oder er konnte nicht.“ Aber ich will und ich will können – besonders heute.

Auf dem Nonnenweg manifestiert sich mein Zustand mit lautem Keuchen. Bis zur nächsten Passage am Ausgangspunkt versuche ich das Ding durchzuziehen, dann brauch ich Pause. Gesagt, getan. Am Verpflegungsstand versorge ich mich mit warmem Iso und Wasser, lege eine Gehpause ein und führe mir gemächlich einen Schluck nach dem anderen zu.

Auf dieser dritten Runde zündet kein Turbo mehr. Mit massiv gedrosselter Geschwindigkeit schlurfe ich über die Anton-Bruckner-Alle. Heute spiele ich keine flotten Weisen, da hilft auch die musikalische Namensgebung der Straßen und Plätze entlang der Strecke nichts. Richard-Strauss-Platz, Brahmsplatz, Franz-Schubert-Platz, Edvard-Grieg-Allee, Beethovenstraße, Haydnstraße, Robert-Schumann-Straße und Telemannstraße ändern nichts an der Tatsache, dass ich heute einen marathonistischen Trauermarsch blase. Rechts von uns, weiter im Park drin ist die Parkbühne. Winterlich verwaist. Gespielt wird wieder bei angenehmeren äußeren Bedingungen. Vielleicht Sommernachtstraum. Was bei mir über die Bühne geht, ist nicht großes Kino, doch ich bin allen Widrigkeiten zum Trotz entschlossen, diese Vorstellung nicht zu einer Tragödie verkommen zu lassen. Bei der Galopprennbahn höre ich Loriots Neuling sagen: „Er konnte nicht? Ach, wie unangenehm.“ Genau das wäre es mir, wenn ich schlapp machen würde. Unangenehm.

Die treue Seele an der Ecke vorne versorgt die Läufer mit musikalischer Begleitung und Aufmunterung. Ich rede mir ein, dass am Ende dieser und dem Beginn der nächsten Runde schon die Halbzeit in Sicht ist und gebe bekannt, dass ich bei jedem Durchgang am Verpflegungsposten eine ausgedehnte Gehpause einschalten werde. Ich nehme mir auch Zeit, von den nicht flüssigen Köstlichkeiten, die angeboten werden, zu kosten. Besonders der Honigkuchen tut es mir an. Seine Wirkung qualifiziert ihn als Psychopharmakon. Es geht nicht schneller, dafür sonst wieder aufwärts.

Die Geduld von Anton und Klaus ist wohltuend und begleitet mich weiter. Dort, wo der Wind uns besonders bissig entgegenbläst, geht Anton voraus und will mir Windschatten geben. Wenn ich in den vollen Genuss dieser Erleichterung kommen möchte, müsste ich mich allerdings quer in die Laufrichtung stellen. Mir ist es ein Rätsel, wie man trotz bayrischem Flüssigbrot so dünn bleiben kann. Dass ich überhaupt zu solchen Gedanken fähig bin, ist ein gutes Zeichen.

Mit jeder Runde ändert der Niederschlag seinen Aggregatzustand mehr, zudem hat die bisher gefallene Menge, im Verbund mit den vielen Füßen, die ihn in den permanent in Untergrund einarbeiten, zu ausgedehnten Pfützen geführt. Stellenweise bieten die Streckenposten den außerordentlichen Service, den Boden zu kehren und das Wasser der Pfützen ins Gras zu befördern. Meine müden Beine  schaffen es anderenorts aber nicht auszuweichen. Was soll’s. An nassen Füßen wird es nicht scheitern.

Den letzten Stopp am Verpflegungsposten halte ich kurz. Hinter uns kommen ganze Scharen von Teams. Wenn ich bis jetzt durchgehalten habe, will ich – wenn irgendwie möglich – die jetzige Position im Feld auf der kleinen Zusatzschlaufe behalten.  Noch sind wir auf diesen zwei Kilometern nicht weit gekommen, da zwickt es in der linken Wade. Nein, jetzt bitte keine Krämpfe! Ich versuche die Bewegungsabläufe so bewusst wie möglich auszuführen und so das Risiko zu senken, dass dieses immer wieder auftretende kurze Zucken sich zu einem dauerhaften Krampf entwickelt. Entsprechend linkisch ist auf der Sachsenbrücke meine Begrüßung des entgegenkommenden Teams mit Wolfgang, Klaus und Bernie.

Gleich danach biegen wir auf das kurze Stück zum Ziel hin ein. In der Kurve reicht mir Anton meine besondere Kopfbedeckung, welche er seit dem letzten Durchgang am Verpflegungsposten mittrug. Dann geht es Hand in Hand ins Ziel, wo wir freundlich begrüßt werden. Das Ziel ist erreicht, ich habe mein Ziel erreicht, der hundertste Lauf über die Marathondistanz oder länger liegt erfolgreich hinter mir. Die Anstrengungen auf dem Weg dahin sind nicht vergessen, doch sie waren es wert, durchgestanden zu werden.  Wie soll ich das Gefühl beschreiben, das von mir Besitz ergreift? Freude, Glück, ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.

Ich habe keinen Oscar gewonnen, doch ein paar Worte des Danks bringe ich auch an. Meiner Familie danke ich, dass sie mir ermöglicht, meiner Laufleidenschaft (heute mit Betonung auf Leiden) nachzugehen. Zur Familie gehören selbstredend auch die beiden Vierbeiner, meine beiden Trainingskumpel, denen kein Wetter zu schlecht ist und die mich überzeugend zum Laufen auffordern, wenn es der innere Vierbeiner nicht auf der Agenda hat. Ihnen zu Ehren auch meine Kopfbedeckung in Form eines Wolfs-/Huskygesichts beim Zielleinlauf. Die Besonderheit im Zusammenhang mit ihnen ist, dass sie ganz aus der Nähe von Leipzig kommen. Beide wurden uns von den engagierten Tierfreunden des Tierheims Oelzschau vermittelt. Deshalb soll das Tierheim auch an meinem sportlichen Erfolg beteiligt werden und für jeden meiner Finishs einen Euro bekommen.

Die Möglichkeit, für einen anderen guten Zweck zu spenden, ergibt sich im Anschluss an die wunderbar heiße Dusche in Form des Kuchen- und Getränkebuffets in der Halle. Die orange Fraktion von marathon4you.de sichert sich einen Tisch, stärkt sich und tauscht sich aus. Diese seltene Gelegenheit muss genutzt werden und zur Feier des Tages fährt der Chef sogar Sekt auf. Ich weiß nicht mehr, ob es Anton oder Klaus war, der unterwegs Wahres gesagt hat: Du wirst sehen, jetzt fühlst du dich vielleicht besch… - aber wenn du im Ziel bist, bist du froh, dass du es durchgezogen hast und freust dich über das gute Gefühl in dir.“ Recht hat er!

Viele Bilder vom Leipziger Wintermarathon findet ihr in den Berichten von Andrea Helmuth und Wolfgang Bernath.

 

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