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Laufberichte

Der unvergessliche Schneehammer

 
Autor: Joe Kelbel

Die Lügenpresse übertreibt wieder: „Alarmstufe rot!“ Meine Mutter will mir deswegen eine „Entschuldigung“ für die Leute in Aegidienberg schreiben, die Wettervorhersage wäre ja grausam. Von ihrer Wohnung sehe ich den Drachenfels, die Wolkenburg, den Petersberg, den Nonnenstromberg, den Lohrberg, die Löwenburg und den Großen Oelberg. Sieben verschneite Gipfel, insgesamt dürften es mehr als vierzig Gipfel sein, es sind die Reste eines Supervulkans. Der Name Siebengebirge soll vom Wort „siffen“ kommen. Wir werden uns heute also wie all die Jahre einsiffen. Denn: „Der Lauf findet bei jedem Wetter statt!“

Das Bürgerhaus ist der Mittelpunkt von Aegidienberg. Vielleicht nicht mehr lange, denn nach jahrelanger Planung ist letzte Woche eine neue Sporthalle eingeweiht worden. Gerade noch rechtzeitig, denn Ende des Jahres wäre die Spende des Sportmäzens verfallen. Wir Läufer bleiben im Bürgerhaus untergebracht. Es ist uns ans Herz gewachsen, denn sonst gibt es nur in Frankfurt einen Zieleinlauf in eine Halle.  Bei dem beschlägt einem aber nicht die Brille.

Am einfachsten ist es, sich die Startnummer vor dem Lauf abzuholen. Man kann sie auch am Samstag in Bad Honnef abholen, aber es gibt kaum jemanden hier, der so aufgeregt wäre und das nötig hätte. Die Stammläufer kommen von weit her, denn der Termin ist gut gewählt, immer am zweiten Samstag im Dezember. Morgens gibt es in der Halle für wenig Geld Brötchen, Kaffee und signierte Bücher eines bekannten Läufers.

 

 

Wenn sich die Halbmarathonis kurz vor 9 Uhr an den Start begeben, dann lichten sich die Reihen vor den Toiletten. Der Start ist auf der „Rennbahn“ des Pferdesportvereins, dessen Pferde nicht rennen, sondern gehen.   Es sind Gangpferde, sie tölten. Man sollte etwa 20 Minuten vor dem Start dorthin tölten, immer den anderen Töltern nach.

Otto Neuhoff ist der Bürgermeister von Bad Honnef, zu dem Aegidienberg gehört.  Er gibt den Startschuss.

Ein Genusslauf startet langsam, dies ist also keiner. Höchstens für Moritz auf der Heide, der in der ersten Kurve schon weit vor allen anderen ist. Auch er hat seine Mutter besucht, die hier um die Ecke wohnt. Sie lief den Marathon einst in 3:18 Std.  Das wollte Moritz unterbieten und fing während seiner Schulzeit in Bonn-Beuel mit dem Training im Siebengebirge an.

 

 

Wir wetzen über die Hauptstraße, am Bürgerhaus vorbei, in der Kurve zur Friedensstraße gibt es die ersten Rutschprobleme. Auf dem Laub im Wald wird es griffiger. Zuschauer, die am Start standen, erwarten uns unterhalb der Gangsportbahn, bevor wir endgültig in die dunklen Wälder des Siebengebirges abtauchen. Im Schmelztal ist die erste Verpflegungsstelle (km 5), viele kleine Schneeflocken und eine motivierte Helfercrew begrüßen uns hier.

Unserer Laufstrecke geht hinauf Richtung Löwenburg(455 m), eigentlich zu flach zum Gehen, aber mein Atem bleibt auf der Brille kleben.  Nur wenn ich marschiere, werden die Gläser wieder klar. Bald  entdecken auch Schneeflocken die Haftfähigkeit meiner Brille, okkupieren sie nahtlos.

 

 

Der zweite VP ist unterhalb des Gasthofes Löwenburg, der mal der Pferdestall für die Burgherren von der Löwenburg werden sollte. Von der Margaretenhöhe kommen uns unsere Vorläufer entgegen. Wir Nachzügler müssen erst den Lohrberg umrunden. Links wäre jetzt ein schöner Blick zum Drachenfelsen, zur Drachenburg und  zum Kölner Dom am Horizont. Aber man sieht kaum die Hand vor Augen. Der Drache wohnte auf der Vorderseite des Berges. Die Höhlung, die einige Meter über den Weinbergen am Fuße des Felsens liegt, ist rund 15 m hoch, dort muss es jetzt schön warm sein. Doch Drachen haben fürchterlichen Mundgeruch!  

Mein Problem ist die Jacke, die die Feuchtigkeit nach außen leitet, genauso, wie wiederverschließbare Plastiktüten garantiert wiederverschließbar sind. Ich bin klatschnass, mir ist kalt, saukalt.  Da klingelt das Handy.  Ein Kumpel kann nicht nach Malle fliegen, der Flughafen ist wegen Schneefalls gesperrt. Das interessiert mich total.  Ich bin rasend vor Wut, vertraue nun voll auf meine Schuhe und eile geladen hinunter zur Magarethenhöhe. An der Kurve sind wir alle vorsichtig, weil ein Ordner uns dazu ermahnt.  Doch wenige Meter weiter legt sich ein Vorläufer hin.  Er will es noch bis zur Löwenburg schaffen und dann aussteigen, weint er mir durch das Schneetreiben zu.

 

 

Der Wind wird heftiger, peitscht uns die Schneeflocken ins Gesicht. Sie sind klein und spitz, schmerzen in den Augen. Wir müssen aufpassen, dass uns die Rodler nicht überfahren, die Kinder sind total orientierungslos, versuchen unkontrolliert ihre Schlitten, die rostige Spuren hinterlassen, zu bremsen. Streckenmarkierungen sind nicht mehr zu erkennen, jeder läuft jetzt geduckt, um den scharfen Schneeflocken keine Angriffsfläche zu bieten.

„Haaalt! Haaalt!“ brülle ich. Vier, fünf Läufer hören mich im kalten Heulen des Windes, die anderen laufen stur den falschen Weg ins Nirvana weiter. Wer richtig läuft, der hat nun das 14 Kilometer-Schild vor sich und blickt auf einen alten Bremsweg. Nicht für Läufer, sondern für Schlitten, mit denen das Gestein aus dem Steinbruch runter  zum Rhein befördert wurde. Wieder am VP unterhalb der Löwenburg kommt der Eiswind nun aus dem Rheintal hoch, da hilft keine Kopfbedeckung mehr. Die durchgefrorenen Helfer kommen gut mit dem warmen Tee nach. Danke!

Der Weg zurück ins Schmelztal gibt falsche Hoffnung, dass es bald aufklaren wird. Die Witterung ist unangenehm, nicht bedrohlich, eher ungewohnt. Wir sind wieder am VP Schmelztal, es gibt glücklicherweise warme Getränke, die Spekulatius sind genial. Wenige Autofahrer werden von Polizisten in warmer Dienstkleidung angehalten. In den Autos sitzen verwegene Wanderer, die Autobahn ist schon gesperrt.

Der Weg hinauf zum Hausberg Bad Honnefs, dem Himmerich, wird zum Kampf, der Typ mit dem Schneehammer haut jetzt voll zu. Das Gute ist, der Lauf wird niemals abgesagt, ich werde überleben und finishen sowieso.

 

 

Carsten schließt zu mir auf. Unter seiner Gesichtsmaske kann er so viel schwätzen, dass der fette Schnee ängstlich von den tiefhängenden Ästen auf uns runterplatscht. Warum eigentlich habe ich das Entschuldigungsschreiben meiner Mutter bei der Startunterlagenausgabe nicht abgegeben? Wir kommen zum Himmerich. „Him“ ist ein altes Wort für Hirsch, dies ist also der Hirschberg, der mit der  Leybergspitze theoretisch die schönsten Blicke ins Rheintal bietet. Heute jedoch nicht. Beide Berge sind ehemalige Steinabbaugebiete. Himbeeren, also Hirschbeeren wachsen auch hier, sind nun aber mit dicken Neuschneehäubchen bedeckt.

Der Lauf wird frostiger, grausamer, lustiger und unvergesslicher. Was die Werbung verspricht, schafft der eisige Wind: Meine Jacke ist trocken. Am nächsten VP ist wirklich „Alarmstufe rot“, wie die Lügenpresse prognostiziert hat: Wir lachen uns im dichten Schneetreiben mit rot gefrorenen Gesichtern kaputt. Es ist schön hier, ein wenig abenteuerlich, der Jahreszeit angemessen. Ich bin nicht allein, nicht im Hochgebirge, habe Handyempfang, Polizeiüberwachung und alle 5 Kilometer Verpflegung.

Die Luft ist sauber und klar, ich rieche frische Plätzchen und Rindsrouladen mit Rotkohl und Klößen. Tatsächlich hat auch Carsten ein eigenartiges Halb-Hungergefühl im Magen. Im Schnee zu laufen ist  so wie Schwimmen: Es ist nicht nur der Temperaturunterschied, der mehr Energie fordert, es sind die Hormone Leptin und Ghrelin, die das Hungergefühl steuern. In der Kälte wird Ghrelin aktiv, ein Appetitbeschleuniger, der in der Bauchspeicheldrüse produziert wird. Da ich eh Probleme mit meinen Hormonen habe, laufe ich einfach weiter.

Der nächste VP ist an der Kapelle „Das Auge Gottes“, doch das kann im Schneetreiben nichts  erkennen. Die Gelegenheit wäre deswegen jetzt günstig, früher gab es hier Glühwein.

Ganz früher waren hier vier Abschussrampen der V1, die 1944 angelegt wurden, um die Brücke von Remagen (Ludendorffbrücke) zu schützen. Die am besten erhaltene Abschussrampe hat ein großes Hinweisschild, die anderen nur Pappschilder. Als ich 2004 hier noch in 4:15 Stunden langgefetzt bin, da gab es links ein sumpfiges Gebiet aus Granatlöchern.  Die Amis standen 600 Meter von hier entfernt und versuchten, an die Technologie der V1 ranzukommen, ohne sie zu beschädigen. Der Wehrmacht gelang es, die gesamte Anlage unbeschädigt nach Berlin zu befördern, wo sie aber nicht mehr zum Einsatz kam.

 

 

Immer, wenn ich unbeschädigt am letzten VP bei Steffi Steinberg ankomme, dann kommt sie voll zum Einsatz. Die frisch gebackene Dreifach-Triathlon-Weltmeisterin weiß, dass kalte Bananen nur etwas für Menschen mit künstlichen Gebiss sind und hat deshalb die gelben Früchte gegrillt. Die Motivationstrainerin hat 72 Athleten (die 7Gebirgsathleten) unter Betreuung und 2 Millionen Schweinehunde besiegt (so ihre website). Ich schaff das mit zwei Gläsern Kölsch.

 

 

Wir alle haben es geschafft, wir haben diesen grausamen, unmenschlichen Schneesturm besiegt und  wären jetzt reif für den Yukon Quest. Reif für ein Bundesverdienstkreuz wäre Stefan Winker, der mit seiner Ratsche und der Tröte seit Urzeiten den Läufern nochmal Kraft für die letzten 2 Kilometer gibt.

Einfach sind die letzten  Kilometer nicht, der Schnee rutscht bei zunehmender Laufgeschwindigkeit unter den Sohlen weg. Optimal, wenn man lernbereit ist und auch mal „schlechtes“ Wetter genießen kann. Ein unvergesslicher Lauf! Yipiiii!

 

Informationen: Siebengebirgsmarathon
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