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Laufberichte

Windige Liebeserklärung

25.02.06

Liebe POWER-Schnecken,

 

eines vorneweg: ich schreibe grundsätzlich miserable Liebesbriefe. Vor allem dann, wenn diese für die Öffentlichkeit bestimmt sind, also jeder Überpronierer oder Supinierer oder sonstwer in mein Läuferherz blicken darf. Aber ich tue das ja freiwillig. Wirklich freiwillig? Werden nicht mehr als 98 Prozent aller Liebesbriefe auf dieser Welt im herrlichen Überschwang der Gefühle, in geistiger Umnachtung, oder häufig auch unmittelbar nach Ausschüttung tausendfacher Hormonmengen niedergekritzelt? Ich bin Mann, ich kenne mich da aus.

 

Die wahre Zurechnungsfähigkeit eines Liebesbriefekritzlers dürfte sich spätestens während der ersten oder zweiten Ehekrise herausstellen. Da die Kieler POWER-Schnecken aber aus 72 aktiven Läuferinnen und Läufern bestehen, werden derlei partnerorientierte Konflikte wohl kaum eine Rolle spielen. An der Liebesbrief-Theorie der ausgeschütteten Glückshormone ist aber in meinem Fall sicherlich was dran.

 

Das beginnt wie im richtigen Leben mit einem grandiosen Vorspiel, mit dem Drumherum vor dem eigentlichen Lauf an der Förde: völlig hormongerecht in der Jugendherberge wenige Höhenmeter oberhalb von Kiel geschlummert (Herbergsvater Helmut Behnke hätte gerne auch ein paar Kalorien verbrannt, trainiert aber für seinen Heimat-Marathon in Steinfurt), und dann noch Siegfried "Siggi" Harnisch aus Sindelfingen kennen gelernt. Einer von vielen spannenden Ultra-Gestalten und Marathonsammlern an diesem Wochenende (der legendäre Horst Preißler lief in Kiel übrigens seinen 1397. Marathon!), einige waren erst am Sonntag vor einer Woche beim letzten 75 Km-Spaßlauf von Lübeck nach Hamburg auf die Pirsch gegangen. Ganz schön bekloppt, allerdings im positiven Sinne.

 

Der Siggi aus Sindelfingen ist da nicht viel anders. Der Typ mit dem Schnauz, der mich an den Fußball-Grabowski aus den 70ern erinnert,  hat sich in diesem Jahr immerhin den kompletten Europa-Ultramarathon-Cup (6 Läufe) zum Ziel gesetzt. Beim Marathon der POWER-Schnecken mischt Siggi schlußendlich vorne mit, saugute 3:16 und Platz 13 für den sympathischen Schwabenpfeil. Meine Kieler Liebeserklärung, da bin ich mir sicher, würde auch Siggi unterschreiben.

 

Okay, der Shuttle-Transfer vom Zielgelände zu den Duschen einer Sporthalle ist ein klein wenig umständlich, ein paar mehr Zuschauer entlang der Pendelstrecke hätten die POWER-Schnecken auch verdient, aber ansonsten? Für einen Lauf zu dieser Jahreszeit sind gezählte 1.659 Teilnehmer (Marathon 271, Halbmarathon 854, 10einhalb Km 486, Walking 46, 2 Rolli-Fahrer) ein dolles Ding, zumal wenn dann noch international besetzt.

 

Viele Skandinavier kamen wieder rüber nach Kiel (stärkste Gruppe waren diesmal die Schweden mit 31 Startern), auch ein Kenianer, ein Japaner, sowie ein Argentinier waren an der Ostsee mit dabei. Jedenfalls hatte Kiels Oberbürgermeisterin Angelika Volquartz bei ihrer Begrüßung eine Vorahnung gehabt. Die blonde Politikerin versprach nämlich den Teilnehmern ein "maritimes Erlebnis" entlang des 10,5 Kilometer langen Wendekurses.

 

Wendekurs? Igittigitt, bähh, will ich nicht. Solche Pendelkurse lösen bei mir reflexartig ähnliche Reaktionen aus wie einst der dampfende Teller Rosenkohl in meiner Kindheit. Also kaum Stürme der Begeisterung. Aber Kiel, oh Wunder, war oder ist ganz anders. Es geht zwar rauf und runter, wieder rauf und runter, nochmal rauf und runter, und - weil es so schön war - ein letztes Mal rauf  zu Wendepunkt 1 und runter zu Wendepunkt 2. Doch zwischen den vielen Rauf und Runter steckt, man möchte es kaum glauben, jede Menge Erlebnispotential. Jedenfalls genug für einen Liebesbrief.

 

Alles beginnt und endet schräg gegenüber den Eros-Centern dieser Landeshauptstadt, am Ostseekai. Genau hier an den backsteinfarbenen Speichergebäuden liegt das Zentrum läuferischer Lüsternheit, mit einer kleinen Marathonmesse, Nummernausgabe,Tombola, Siegerehrung, Kleideraufbewahrung, und Sieghard Scholz. Genau, auch Sieghard gehört zur eifrigen Helferschar der POWER-Schnecken, allerdings läuft der Gute nicht mehr. Dafür ist Sieghard nun der Herr über mehr als tausend Sporttaschen,  kaum was entgeht seinen Adleraugen. Nebenbei ist Sieghard auch noch freundlicher Auskunftsgeber für gestresste Läufer und  zuverlässiger Informant für meldungshungrige Journalisten. Danke, Sieghard!

 

Vom Start am Ostseekai, fachkundig moderiert, geht es entlang Kiellinie und Hindenburgufer immer Richtung Norden. Immer an der Förde, am Wasser entlang. Das "maritime Erlebnis" kann beginnen, und es legt leicht ungemütlich los mit einem fiesen Nordost-Wind, bissig-kalt und das Weiterkommen erschwerend. Wobei dieser Nordost-Wind noch viel heftiger kann. Vor ein paar Jahren sind die Verpflegungsstände weggepustet worden. Dagegen ist das diesmal ein laues Lüftchen, mehr Kindergeburtstag als Sturmparty.

 

Ansonsten schweift mein Blick auf die vielen kleinen Dinge links und rechts der Strecke, vorausgesetzt man hat bei gestiegenem Puls noch ein Auge übrig für die imposanten Fährschiffe, die in ihren Bäuchen Passagiere und Autos mit nach Skandinavien nehmen. Immer wieder tauchen die schmucken Häuser der Segelclubs auf, dazwischen das Kieler Aquarium mit den im Freibecken auf- und abtauchenden Seehunden. Dann die Boote der Wasserschutzpolizei, der alte Kutter mit dem treffenden Namen "Nordwind von Kiel", der gegenüber dem Cafe "Der Seehund" fest gemacht hat.

 

Die Luft an der Küste ist so rein, wie es früher nur die Ariel-Clementine von ihrer Wäsche im Fernsehen behaupten durfte. Nach rund fünf Kilometern an der Fußgänger-Promenade erreichen die Marathonis den ersten Wendepunkt, etwa in Höhe des Marinestützpunktes. Schiffe der Bundesmarine liegen vor Anker, allerdings habe ich laufende Matrosen im entsprechenden Look nicht ausmachen können. An der nördlichen Wende ist gleich auch die erste Verpflegungsstation. Die POWER-Schnecken wissen ganz genau was Läufermägen mögen: vom simplen Wasser für den Asketen, über das standardmäßige "Bitte-ein-BIT" (Banane, Iso, Tee), bis hin zu leckeren Extras wie Kuchen, Kekse, Schokolade oder schlichte Rosinen - für 18 Euro Startgeld (Marathon) ein edles Menü. Wiederholung am südlichen Wendepunkt.

 

Ein Pluspunkt solch einer Pendelstrecke: man sieht sich gleich mehrmals. Für die streitenden Wettkampf-Strategen oft eine prima Gelegenheit, sich das Rennen entsprechend der Position des Widersachers mehr oder weniger klug einzuteilen. Für Genußläufer, wie meine Wenigkeit an diesem Tage, ein Ort der Studien. Gaffen, lästern, Gedankenspiele. Der Blick in die Gesichter und auf die Körper verrät einiges. Da ist die blonde Triathletin, der ich am liebsten um den Hals fallen würde - so schön ist sie in meinen Augen, ästhetisch fein anzusehen. Andere bewundere ich ob ihrer Leichtigkeit und Lockerheit kurz vor dem Ziel, wieder andere quälen und schinden sich bis zum letzten Meter. Und es gibt immer wieder ein Wiedersehen mit etlichen bekannten Gesichtern, auch wenn mehr als ein kurzes "Hallo" oft nicht drin ist.

 

Da ist Hans-Joachim Meyer zum Beispiel, der Präsident des Hamburger 100-Marathon-Clubs, der vor seinem vierwöchigen (Ski-)Urlaub nochmal einen letzten längeren Lauf, seinen 956. Marathon einschiebt. Oder aber Sylvia Rehn, ebenfalls aus Hamburg, die erstplatzierte Frau beim letztjährigen Deutschlandlauf quer durch die Republik. Mein Neid gilt diesmal ihrem flotten Tempo, dem ich nur wenig entgegen zu setzen habe.

 

Doch die Uhr spielt an diesem Tag keine wirklich wichtige Rolle. Während ich so in Gedanken versunken meine letzten Kilometer zwischen Seehundbecken und Sartorikai abspule, erreicht der Marathon-Sieger, der Schweizer Thomas Winkler, in 2 Stunden und 51 Minuten die Ziellinie. Kein großer Bahnhof, kein blendendes Blitzlichtgewitter, kein PR-Gehampel am Kieler Ostseekai. Warum auch? So ist nun mal der Kiel-Marathon. Ähnlich wie die Stadt an der Förde: nordisch nüchtern und schlicht, aber ehrlich. Ohne Prunk und Schnörkel, trotzdem  auf  gewisse Weise elegant.  So was mag ich,  glaubt es mir, auch wenn ich ein miserabler Liebesbriefschreiber bin.

 

Alexander von Uleniecki ist Rundfunkreporter bei SWR3 in Baden-Baden und seit einigen Jahren leidenschaftlicher Läufer. In unregelmäßigen Abständen schreibt er als Gastautor für marathon4you.de

 

Informationen: Kiel-Marathon
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