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Laufberichte

Zwischen Keuschheitsgürtel und Kevin

 
Autor: Joe Kelbel

Letzte Nacht habe ich geträumt, ich dürfte nicht mehr am Kevelaer Marathon teilnehmen, weil ich schon so oft hier gelaufen bin. Ich bin tränenüberströmt aufgeschreckt. Glücklicherweise gibt es keine solche Limitierung.

Kevelaer ist ein fränkischer Ortsname. Die Franken verdrängten die Römer auf die linksrheinische Seite, ein kleiner Trupp blieb in dieser Gegend hängen und verrät sich heute durch das Käwels Platt, das zwischen der sogenannten Uerdinger und der Benrather Sprachlinie gesprochen wird. Mit dem heutigen Fränkisch hat das Käwels Platt nach all den Jahren nicht mehr viel gemeinsam. Da Fränkisch schon damals nicht zu verstehen war, gibt es keine Übersetzung für  „Kevelaer“. Auch der Duden findet keine plausible Erklärung, er ordnet aber Kevelaer zwischen Keuschheitsgürtel und Kevin ein. Wie viele hier und heute mit Keuschheitsgürtel laufen, kann ich nicht sagen, jedenfalls ist Kevin dabei und nicht allein zu hause. 

 

 

Heute ist die 15. Austragung und mein 17. Marathonjahr  beginnt. Und das auch noch mit einer runden Zahl: Es ist mein 350. Marathon/Ultra. Meine Läuferfamilie ist hier, nicht in New York. Ich hechte zum Auto, um meinen Champion Chip zu holen. Es gibt zwar über 400 Anmeldungen, aber viele Läufer sind wegen der überfrierenden Nässe daheim geblieben. Das erhöht meine heutige Siegchance.

Im Start/Zielbereich  sieht es klimatisch grausamer aus, als es ist. Die Laufstrecke ist traditionell bestens geräumt. Eigentlich ist die Laufstrecke, die 7mal gelaufen werden muss, recht unspektakulär, aber ich finde immer etwas, was ich euch servieren kann:

 

 

Gleich am Anfang ist der Fanclub vom Gerberweg, der sich schon jetzt formiert. Das verheißt lustig zu werden. Rechterhand, im Weiler Heide, führt die Straße „Am Heyberg“  zu 325 ehemaligen Nato- Munitionsbunker. Ein Traberpark hat dort seit Abzug der Soldaten 1992 die Pferde untergebracht, nun werden aus den Bunkern Einfamilienhäuser.  Die Bewohner loben die Stille und die Einbruchsicherheit.

Mit der ersten Linkskurve (km 2) in die Straße „Am Bollenberg“, laufen wir in Sichtweite zur Grenze zu den Niederlanden. Eigentlich, so wissen wir es aus einer verbotenen Strophe, müsste die Maas die Grenze bilden. Das ist prinzipiell auch richtig, aber, gemäß den Verträgen des Wiener Kongresses( 1815), verläuft die Grenze einen Kanonenschuss östlich der Maas. Reine Sicherheitsvorkehrung, die Franzosen hatten dieses Land zu oft besucht. 

Nun hängt die Reichweite einer Kanone wie die eines Marathonläufers von der Machart, dem Gewicht, und der Befüllung ab.  Also, wie wurde der Grenzverlauf definiert? Es war der  preußische General Scharnhorst, der in seinen militärischen Handbüchern jede Waffengattung beschrieb, er erstellte Tabellen über die verwendeten Kanonen.

Napoleon verwendete hauptsächlich die 6-Pfünder aus österreichischer Produktion, weil die besser waren, und die kamen auf eine Reichweite von 3.500 Schritt (2615 m), aber nur bei Rollschüssen. Bei einem Rollschuss lässt man das Geschoß mehrfach auf den Erdboden auftreffen, so als würde man einen flachen Stein auf der Wasseroberfläche titschen lassen. Deshalb also befindet sich die Maas 2615 Meter westlich unserer Laufstrecke.   

 

 

Rollschüsse wehrt man am besten mit einem Schutzwall ab, an den die Kanonenkugeln schadlos bollern können. Von diesem Schutzwall ist nach 200 Jahren nur noch eine 1 Meter hohe Erhebung übrig geblieben, die wir locker meistern.  Auch die Wegbezeichnung ist geblieben:  „ Am Bollenberg“.  

Am Beginn der Geflügelfarm sieht man deutlich einen Krater, aber vor dem etwa noch 1 Kilometer langen Bollwerk, der im nebligen Streulichtwird gut sichtbar ist. „Am Bollenberg“ macht einen kleinen Bogen nach links, folgt damit exakt einem damaligen Mäander der Maas, die 2615 Meter rechts von uns verläuft. Die Rechnung von Scharnhorst beruhte auf der preußischen Maßeinheit für Pfund (467 Gramm). In Nürnberg waren ein Pfund aber 510 Gramm. Da ich aus Frankfurt komme, rechne ich mit 490 Gramm, also habe ich bei 180 Pfund eine Reichweite von 80 Kilometern, und tatsächlich brauche ich jetzt eine Befüllung. Wir sind beim zweiten Verpflegungspunkt  bei allerbester Rockmusik. 

Ich titsche meine Runden über den Bollenberg und über das Kuckucksfeld in den Maasweg. An der Straße „Am Brembsberg“ verlief wohl das letzte Bollwerk zum Schutz von Gut Neuhof. An der Tünnstrasse stand ein mittelalterlicher Turm (Tünn), am Beetenackerweg wird Kappes angebaut, denn nur wer im Sommer Kappes klaut, der hat im Winter Sauerkraut. Wieder vorbei am Fanclub Gerberweg, erste Runde beendet.

 

 

An der Verpflegungsstelle gibt es keinen Kappes, sondern Honigkuchen, ein Lebkuchen holländischer Art, der mit Honig gewürzt wird. Damit sind wir wieder bei den Kanonen von Napoleon, denn von 1806 bis 1814 gab es die Kontinentalsperre, weswegen kein Zucker mehr nach Deutschland kam.  Also verwendete man Honig. Gleichzeitig begann die Karriere der schlesischen Zuckerrübe, die nun am Niederrhein angebaut wurde. In meiner Kindheit verströmten noch die Zuckerfabriken ihren süßen Duft im Spätsommer. Geblieben ist der Grafschafter Goldsaft, ein eingedickter Zuckerrübensaft. 

Lebkuchen gab man schon im alten Ägypten den Toten mit. In christlichen Fastenzeiten, vor Weihnachten und Ostern, war es erlaubte Nahrung und wurde zusammen mit dem Bier (20 Umdrehungen) konsumiert, weswegen die Lebkuchen in Klöstern hergestellt wurden. Nach Kevelaer kam die Lebkuchenherstellung durch belgische Glaubensflüchtlinge.

Ich bin nicht auf der Flucht, laufe nur meinen 350., weswegen beim Fanclub Gerberweg nun Tuba, Posaune und Schlagzeug ertönen: „Und ich flieg, flieg, flieg zu dir rüber…“ Die Band kommt aus Holland, meinen mit dem Lied keine Kanonenschüsse, sondern Käsekugeln. Das große Loch bei der Geflügelfarm stammt demnach von einem Maasdamer Löcherkäse. Von einer nicht verbotenen Liedstrophe wissen wir, dass sich Käselöcher auch mal verselbständigen und aus einem Käse wegfliegen können.

 

 

Unsere Polonäse ist  lustig und hat sich in die Länge gezogen.  Bei der dritten Runde überholt mich Kevin,  bei meiner vierten Runde läuft Maarten ins Ziel. Jüngere Läufer beschließen jetzt mit ihrem Zieleinlauf diesen Tag, Läufer in meinem Alter noch nicht. Ich stelle fest, dass Läufer in meinem Alter älter aussehen, als ich. Die legen aber auch wenig Wert auf richtige Befüllung, eher auf Gespräche über orthopädische Probleme. Noch älter eLäufer sind eine Stunde vor uns gestartet, das bedeutet, dass ich auch noch in 17 Jahren hier starten darf und keine Albträume haben muss.

Ein lockerer Lauf geht für mich zu Ende.  Ich komme gerade ins Festzelt, als die Siegerehrung beginnt. Dort ist wieder die holländische Comboband und lässt Löcher aus dem Käse fliegen. Das hebt die Stimmung, da kommt Freude auf! 

Noch was: Keuschheitsgürtel braucht man nicht, die Duschen sind eiskalt.

 

Informationen: Kevelaer-Marathon
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