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Laufberichte

AC/DC im Karwendel

27.08.16

 

Steil hinab über ganz schlechte Wege geht es in Richtung Eng Alm, wieder muss ich auf jeden einzelnen meiner Schritte achten, um nicht umzuknicken. Ich bin gewiss kein Flachlandtiroler und viele Bergauf- und Bergabmeter gewöhnt, aber nicht auf solchem Geläuf. Folglich bin ich auch bergab sehr langsam, häufig nur gehend, unbedingt Stürze vermeiden wollend. Von wegen hinunter Zeit gutmachen, Pustekuchen! Sensationell sehen die vor uns liegenden Trails aus, die sich serpentinenartig den Fels entlang schlängeln. Schön ist, dass wir immer wieder mal schattige Abschnitte haben, die die mittlerweile gleißende Sonne erträglicher machen. Eng ist er, der Weg zur Eng Alm, und schlecht: Von Wasser durchzogen und damit rutschig, von vielen groben Steinen durchzogen, kommt bei mir kein Gedanke an ein Hinunterhüpfen auf. Eigentlich war Gams mein zweiter Vorname, aber den ersetze ich ab sofort durch Dumbo. Wer damit nichts anfangen kann, schlage bei Walt Disney nach. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man hier unter viereinhalb Stunden ins Ziel kommen kann, der Streckenrekord steht bei 4:11 Stunden. Für 52 km mit 2.281 Höhenmetern! Red Bull, Flügel und so? Wie hieß der Spruch des Tages in unserer Herberge? „Man kann die eigenen Grenzen nur feststellen, indem man sie gelegentlich überschreitet. Das gilt für jene, die man sich selbst setzt, ebenso für jene, die einem andere setzen.“ (Josef Broukal). Wie wahr. Irgendwann ist der nächste Verpflegungspunkt dann doch erreicht.

 

 

Auf 1.227 m erreichen die 35 km-Läufer und Wanderer hier mit dem Almdorf Eng ihr Ziel. Ultraläufer und –wanderer, für die es hier eng wird (man beachte den unglaublichen Wortwitz!), können mit Wertung aussteigen, durch eine elektronische Zeitnahme garantiert. Ich bin schon so verpeilt, dass ich das Beweisfoto vergesse. Geformt durch jahrhundertelange bäuerliche Bewirtschaftung ist die Eng ein beliebtes Ausflugsziel und Ausgangspunkt vieler Bergwanderungen. Auf der größten Melkalm des Landes wird die weidefrische Milch an Ort und Stelle zu Butter und Käse verarbeitet, die direkt vor Ort verkostet werden können. Das größte Almdorf Tirols hat viel von seiner Ursprünglichkeit beibehalten und hinterlässt beim Besucher einen bleibenden Eindruck.

Das Jungvieh der Eng Alm wird in den Sommermonaten auf die urige Ladiz Hochalm getrieben, um dort zu weiden. Jedes Jahr veranstaltet der Verein Naturpark Karwendel einen Tag der Almpflege, an dem Interessierte bei sog. Schwendarbeiten mit anpacken und ihren Beitrag zum Erhalt dieser Kulturlandschaft leisten, sowie die Arbeit auf einer Alm kennenlernen können. So kann auch dadurch eine wertvolle alpine Kulturlandschaft erhalten werden, die vielen typischen Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum dient. Besonders das Birkhuhn profitiert von der inselartigen Auflichtung des Latschenbestandes. Mich interessiert derweil mehr die Heidelbeersuppe, die ich mir angesichts der Hitze literweise einflößen könnte. Wirklich lecker ist sie, jedoch trinke ich mittlerweile alles durcheinander, was angeboten wird: Wasser, Holundersaft und Tee sind zusätzlich im Angebot, einmal auch Bouillon. Prima finde ich auch die portionierten Salztütchen, von denen ich mir an jeder Station eines reinpfeife. Ist zwar nicht lecker, verhindert aber erfolgreich Krämpfe.

„Für an Ratscha bi i olm zan hom“, sagt Dominik Larcher, der gemeinsam mit Frau Michaela und Tochter Magdalena einen landwirtschaftlichen Betrieb mit 20 Milchkühen und 50 Stück Jungvieh in Bruck am Ziller bewirtschaftet und den Sommer über auf der Binsalm (1.502 m) verbringt, zu der ich mich inzwischen hochgeschleppt habe. 80 Personen können hier übernachten und es sich gutgehen lassen. Ich denke, dass Elke und mich im Laufe der kommenden Woche eine Wanderung nochmals hierher führen wird. Aber erst mal haben Klaus und ich bei 38,37 km noch deren knapp 14 zurückzulegen und machen uns daher bald wieder vom Acker. Allerdings dann doch getrennt, denn er will einen halben Zahn herausnehmen und vor meinem geistigen Auge schwebt noch immer eine 7 vor der Endzeit. Oh, ich Ahnungsloser!

 

 

War es bisher nur schwierig gewesen, wird es jetzt abartig. Extrem steil geht es in der prallen Sonne auf ganz schmalem Pfad aufwärts. Schwerer und schwerer, langsamer und langsamer gehen die Schritte. Gelegentlich werde ich überholt, überhole aber auch selber. Ab und an sitzt jemand im Hang zum Ausruhen. Bilder vom K 78 hinauf zur Keschhütte erscheinen vor meinem geistigen Auge. Bauz, schon rutsche ich mit dem linken Bein ab und kann mich gerade noch so fangen, denn unter dem linken schmalen Grasstreifen war nur noch Luft. Keine Sekunde darf man sich ablenken lassen. Höher und höher geht es, ich weiß, es naht der im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt des Laufs. Ein Durchlass auf dem Felsgrat erscheint, dem Gatterl beim ehemaligen Zugspitz-Extremberglauf ähnlich, dahinter geht es steil hinunter.

Endlich kann ich es rollen lassen. Dachte ich beim Studium des Höhenprofils, doch oh weh! Ein schmaler Trail mit ganz viel grobem Geröll führt über Serpentinen langsam, aber ganz steil hinab. Ich bin bestimmt kein Feigling, aber hier ist für mich nichts mit Laufen. Ganz langsam stakse, nein, eiere ich hinab, es ist ein Graus. Gut, dass ich mich nicht selber beobachten muss. Jetzt wären Stöcke ein Segen, um dem alleine durch die Erdanziehung bedingten Vorwärtsdrang Einhalt zu gebieten, aber Fehlanzeige. Ganz nach vorne gerutscht bin ich in meinen extra für diesen Lauf erworbenen, sündhaft teuren Tretern, die Zehen am Anschlag, festgekrampft an die Sohle und zu allem Überfluss noch einen spitzen Stein im linken Schuh, so versetze ich meinen Oberschenkeln mit jedem Schritt schwere Schläge und befürchte für den Folgetag das Schlimmste. Wie kann ein Mensch hier rennen? Offensichtlich sind nicht wenige dazu in der Lage. Als ich mich unbeobachtet fühle, schreie ich in meiner Hilflosigkeit meinen ohnmächtigen Zorn über meine eigene Unzulänglichkeit heraus.  Das ist AC/DC in Reinkultur. AC/DC? Klar, Alpen Cross Difficult Challange! Danke, Jörg Segger, der im kommenden Jahr einen Lauf von Sonthofen nach Riva plant, für diesen tollen Berichtstitel!

Wider Erwarten hat auch diese Prüfung irgendwann einmal ein Ende, nach 41,52 km erreiche ich den Grama-Hochleger auf 1.756 m. Die Almhütte ist hinter einer hässlichen Betonmauer verborgen. Ich kann damit schon fast einen weiteren Marathon auf der Habenseite verbuchen. Kurz vorher steht eine gute Seele und bietet mit zwei großen, wassergefüllten Kannen Erleichterung für die heißgelaufene Birne an. Angesichts meines Nasenfahrrads verzichte ich jedoch dankend, nehme die Gelegenheit aber gerne wahr und bade meine Laufkappe im kalten Wasser. Welch eine Wohltat! Die Alm am Gramai-Hochleger ist während der Saison bewirtschaftet und eignet sich für eine Einkehr, entnehme ich schon vorher dem WWW und werde vor Ort auch nicht enttäuscht: Man kredenzt uns wieder viele leckere Sachen. Ob es hier den Haferschleim gab, habe ich erfolgreich verdrängt, auf jeden Fall gibt es an der Versorgung insgesamt aber auch gar nichts zu meckern. Über 300 freiwillige Helfer bzw. die Einsatz-Organisationen sorgen  für einen reibungslosen Ablauf, wofür ihnen unser verschärfter Dank gebührt.

Wieder geht es brutal abwärts, stolze 500 HM verlieren wir auf den nächsten drei km auf unserem Weg zur Gramaialm (1.263 m), wo es nicht nur kulinarisch verflixt luxuriös zugeht: Von außen mit dem rustikal-romantischem Charme einer Almhütte gesegnet, bietet sie von innen, wie man lesen kann, den Wohnkomfort eines Hotels mit großzügiger Außensaunalandschaft und angrenzendem Almgarten inklusive Kneippanlage und Barfußweg. Nur gut, dass wir das nicht zu deutlich vor Augen geführt bekommen, womöglich hätte der eine oder andere hier bei 44,5 km nach Überschreitung der Marathondistanz erst einmal die Füße hochgelegt. „Noch 8,7 km“ liest es sich süß am Verpflegungsposten, so langsam wird es überschaubar. Ab hier könne man es rollen lassen, wenn man sich dafür sich die nötigen Körner bewahrt habe, schrieb Andreas im letztjährigen Bericht. Es geht zwar noch einigermaßen, aber rollen sieht definitiv anders aus. Wenigstens ist der Untergrund jetzt wieder eher nach meinem Geschmack.

 

 

Weiter abwärts folgt nach gut zweieinhalb weiteren km die Falzturn-Alm auf 1.098 m. Dieses Alpengasthaus wurde bereits 1910 gebaut, war allerdings bis zum Winter 1972/1973 nur während der Sommermonate geöffnet. Schön anzuschauen ist die Bewahrung des „almerischen“ Charakters bei den diversen Umbauten. Schlappe fünf km trennen uns nur noch vom Ziel in Pertisau am Achensee, in den ich heute noch definitiv mit Hochgenuss versinken werde. Dieses bis zu 133 m tiefe Gewässer wird wegen der für Segler und Surfer optimalen Windverhältnisse gerne auch als „Tiroler Meer“ bezeichnet. Allerdings ist es saukalt, denn einem Gebirgssee entsprechend überschreitet die Wassertemperatur kaum jemals 20° C. Egal, wahrscheinlich steigt die Temperatur deutlich, sobald mein heißgelaufener Körper darin versinkt.

Dann sind die ersten Häuser von Pertisau, dem touristischen Zentrum am Achensee auf 932 m Seehöhe (die hier übrigens die Adria vorgibt) zu sehen. Der 600-Seelen-Ort, im 14. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, ist auch Ausgangs- und Zielpunkt der seit 1887 betriebenen Achensee-Schiffahrt; die Endstation der im Sommer als dampfbetriebene Touristenbahn verkehrenden Achenseebahn (seit 1889) liegt 2 Kilometer südlich von Pertisau. Der See ist Quell des Flüßchens Ache, das, auf bayrischer Seite Walchen benannt, in den Sylvenstausee und damit in die Isar fließt. Das alles jedoch interessiert mich augenblicklich nur peripher, ich will nur noch ins Ziel. Ja, hätte ich nicht mehrere Pinkelpausen gemacht, Zeit an den Labestationen vertrödelt, das Steinchen aus dem Schuh umständlich entfernen müssen, hätte es mit der sub 8 noch etwas werden können. Egal, ich sehe Elke und Barbara aufgeregt winken und weiß, dass ich es jetzt, eine Minute und achtzehn Sekunden länger als beabsichtigt, geschafft habe.

 

 

Völlig geschafft nehme ich die schöne Medaille entgegen, entledige mich genussvoll sämtlicher Fußbekleidung und humpele ins Verpflegungszelt, wo ich mir, es dem Andreas vom Vorjahr gleichmachend, erst einmal vier Halbe reinziehe. Bleifrei, Gott sei Dank, sonst hätten sie mich in der Schubkarre ins unmittelbar gegenüberliegende Hotel fahren können. Eine Viertelstunde später ist zu meiner Beruhigung auch der Klaus da und wir sind uns in unserer Bewertung sofort einig: So etwas werden wir im Leben nie wieder machen!

Nach dem Cooldown am Folgetag, der uns von der Bergstation der Karwendelbahn zu Fuß zum Bärenkopf bringt (6 km hin und zurück, 650 Höhenmeter, ein Muss mit dem ultimativen Blick über Pertisau und den Achensee), was überraschenderweise ohne allzu große Beschwerden gelingt, werden die eben genannten Vorsätze, wunderbar in der Bärenbadalm in der Sonne sitzend und einen herrlichen Kaiserschmarrn verdrückend, natürlich umgehend wieder über Bord geworfen. Geil war's! Scheiße anstrengend, aber ein grandioser Lauf/Marsch in atemberaubender Landschaft bei unvergleichlich gutem Wetter.

Die Sieger nehmen übrigens nicht nur Ruhm, Ehre und Preise mit nach Hause, nein, auch eine kleine Verpflichtung: Denn der Naturpark steht bereits im Frühsommer im Zeichen des Karwendelmarschs – als liebgewonnene Tradition und kleines „Dankeschön“ an die Natur pflanzen die Sieger einen jungen Bergahorn und werden so zu Botschaftern des Bergahorn-Schutzprogrammes.

Wir bleiben noch ein paar Tage hier, denn zu sehen und per Rad bzw. Pedes zu erobern gibt es genug: Drei bewaldete Täler und Almen (Gerntal mit Pletzachalm und Gernalm, Tristenautal sowie Falzthurntal mit Falzthurnalm und Gramaialm) reichen nur sanft ansteigend weit in das Gebirge hinein. Die Talschlüsse bilden steil aufragende Zweitausender wie Sonnjoch, Lamsenspitze, Dristenkopf und Rappenspitze. Uns wird also in der kommenden Woche nicht langweilig werden und zum Wochenende erwartet uns und Euch ein weiterer Höhepunkt. Um es mit dem Terminator zu sagen: I’ll be back!

 

Streckenbeschreibung:

Punkt-zu-Punkt-Kurs über 52 km mit 2.281 Höhenmetern, Ausschilderung alle 5 km. Einwegchip in der Startnummer. Zeitlimit 14 (!) Stunden.

Startgebühr:

45 bis 55 € (bei Nachmeldung).
 
Weitere Veranstaltungen:

35 km Lauf, Walking und Wandern (Zeitlimit 11 Stunden).
 
Leistungen/Auszeichnung:

Urkunde, Medaille

Logistik:
Gepäcktransport zum Ziel

Verpflegung:

10 Verpflegungsstationen,

Zuschauer:

Außer im Ziel nur versprengte Wanderer (ohne Startnummer!) und Mountainbiker

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Informationen: Karwendelmarsch
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