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Laufberichte

Unterschätze nicht St Wendel

 
Autor: Joe Kelbel

In St Wendel verkündete General Blücher, dass der Handel mit den rechtsrheinischen Ländern wieder genehmigte sei. Das war, als Napoleon auf die Insel geschickt wurde. Also eröffnete Franz Bruch einen Kolonialwarenladen. Die Preußen stationierten in St Wendel Soldaten, und Soldaten brauchen was? Kolonialwaren! Also Tabak und Rum.

Drei Tabakfabriken entstanden in St Wendel. Neben Zigarren fand vor allem der Kautabak, der Wennerle (St. Wendel) reißenden Absatz. Weil in den Bergwerken das Rauchen verboten war, kaute man dort unten. Nach 200 Jahren qualmten und kauten 90 % der St. Wendeler Bürger. Der kleine Kolonialwarenladen von Franz Bruch wird heute von seinem UrUrUrenkel Thomas Bruch geleitet, nennt sich Globus. Tabak und Rum werden nicht mehr verkauft.  Denn, als 1959 im Saarland der Franc von der D-Mark abgelöst wurde, rauchte man amerikanische Zigaretten. Die meistbesuchte Halle war damals die Leichenhalle. Globus steuerte um, baute eine Halle für den ersten Verbrauchermarkt. Von da ab bewegte sich der Kunde mehr als der Verkäufer.  Globus bewegt weiterhin die Massen und finanziert als Titelsponsor diesen Marathon.

Statt in der Leichenhalle treffen wir uns im Saalbau. Um den zu finden, orientiert man sich an den zahlreichen Shuttlebussen. Für Marathonläufer, die um 9:10 Uhr starten, ist noch Platz auf dem Festplatz. Wer später startet, der findet reichlich Platz vor dem Missionshaus der Steyler Mission. Die Ermordung zweier Steyler Missionare 1897 in China nahm Wilhelm II. zum Anlass, die Bucht von Tsingtau für 99 Jahre zu pachten. In Tsingtau wird immer noch deutsches Bier gebraut. Die Tsingtau-Brauerei  ist die 6größte der Welt. In St Wendel trinkt man aber Karlsberg.

 

 

Keine Panik, die Shuttlebusse fahren mindestens alle 5 Minuten zum Startgelände, auch wenn nur 2 Läufer drin sitzen. Im Saalbau bilden die 10-Kilometer-Läufer eine Nachmeldeschlange bis auf die Straße. Ich sag immer: Kurzstreckler sind wie Fliegen: Sobald die Sonne scheint, kommen sie raus. Ich war auch mal Kurzstreckler, das war etwa 1964. Glücklicherweise darf ich vorbei, der Schalter für Spitzenläufer ist frei. Zeit für ein schnelles Frühstück im Erdgeschoß.

Etwa 180 Marathonstarter gibt es, 1 % davon Frauen. Beim Halbmarathon (über 800 Starter) gibt es immerhin 50 % Frauenanteil. Aber deswegen werde ich nicht auf die Kurzstrecke umsteigen. Geht auch nicht: „ Sekt oder Selters“ steht in der Ausschreibung, also keine Pussylane auf die Halbmarathonstrecke, die wir Marathonläufer zweimal laufen werden.

Start/Ziel sind unterhalb der Sankt Wendelinus Basilika (erster Bau 12.Jahrh). Neben dem „Dom“, wie die Basilika hier genannt wird, steht das älteste Gasthaus des Saarlandes „Zum Ochsen“ (1620). Dort isst man Hoorische und Dippelappes. Über dem Stammtisch ein Bild des berühmtesten Saarländers: Heinz Becker.

Globuschef Thomas Bruch gibt um 9:10 Uhr den Startschuss. Erstmals treten keine Kenianer in St. Wendel  an. Man überlegt, erstklassige Saarländer statt drittklassige Kenianer zu fördern. Niemand von uns lässt deswegen ein Tränchen rollen. Wir rollen in die Innenstadt, dann mit Schwung hinauf zum Bahnhof.

 

 

In der Werkstrasse passieren wir ein schwer gesichertes Gelände, es ist die Heeresinstandsetzungslogistik, kurz gesagt, hier werden Panzer fit gehalten. Auffallend ist der frisch gestrichene Spitzbunker. Ab 1934 wurden diese Zuckerhüte gebaut, Bomben rutschten vom Dach ab und fielen ohne Detonation auf den Boden. Hinter dem Werksgelände ist der Wendepunkt für uns, es geht zurück, über die Blies und dann nach Westen.

Ich halte mich zwar noch knapp hinter dem 4 Stunden Pacer und versuche weiter auf den moderaten  Anstiegen das Tempo zu halten. Aber dafür ist es auf Dauer heute zu heiß. Und dann der Gegenwind. Oder sonst eine Ausrede. Bei Oberlinxweiler (km 5) muss ich erstmal durchatmen.

Diese permanenten „Anstiege“ sind zwar gut laufbar, machen diesen Stadtmarathon aber nicht einfach. Nicht gut für Bestzeitabsichten, aber bestes Trainingsgebiet. Die B41 hinunter erinnert an einsame Wüstenläufe. Wer diese Strecke schafft, der kann sich auch an grausamere Ziele wagen.

 

 

Es geht zurück Richtung Innenstadt, wieder vorbei am Globus Baumarkt und am Globus Markt. Auch der Hela Markt gehört zu Globus. Aldi noch nicht.  Hier entdeck ich „Hartfüßler“ Hendrik mit seinem privaten VP. Es gibt mindestens alle 5 Kilometer eine Verpflegungsstelle, mit gutem Angebot. Also nicht nur Wasser und Bananen. Wir sind schließlich keine Affen.  Und Globus ist spendabel.

Langsam werden die Einwohner wach.  Ich meine diejenigen Einwohner, die keine Läufer auf der Strecke haben, aber jetzt trotzdem am Straßenrand feiern. Ich bin ja ein Läufer, der das Extreme sucht.  Also nehme ich Kontakt zu den Eingeborenen auf, auch wenn es sprachlich schwierig ist. Ich glaube aber zu verstehen, dass man mich fragt, ob wir noch nach Murxweiler laufen müssen. Ja müssen wir, zunächst sind wir aber in Alsfassen (km 13). Hier wird es ländlich schön. Gerne wäre ich zur Felsenmühle gelaufen, doch dies ist ein Stadtmarathon. Und zwar einer mit 300 Höhenmetern, das muss man laufen können.

Murxweiler entpuppt sich als Urweiler, und hier (km 18) ist ziemlich was los. Links junge Leute mit Shisha-Gerät, rechts normale Leute mit Bierflaschen und Rollstuhl. Es macht mir keinen Spaß, „hinauf“ zum Wendepunkt zu laufen, es ist eine echte Herausforderung. Als es wieder „hinab“ geht, kommt mir schon der heutige Gewinner Andreas Probst entgegen. Er schaut ein wenig skeptisch in meine Kamera, wozu er allen Grund hat. Mit 2:38 ist er heute 1 Minute langsamer als letztes Jahr, was beweist, dass die diesjährigen Bedingungen unmenschlich sind.

 

 

Nach einem wiederholten Stopp am VP der Hartfüssler (km 21)  entdecke ich das Schild: Rundenschlusszeit Marathon 12 Uhr. Das raubt mir die letzte Motivation auf für einen Tempolauf, denn ich habe noch alle Zeit der Welt für die zweite Runde. Die jungen Cheerleader machen eine gute Performance.  Ich sehe gerade noch, wie ein Mädchen durch die Luft fliegt und glücklicherweise aufgefangen wird.  Als ich von der Werkstrasse wieder hinauf komme zur Mommstrasse, kreuze ich die Strecke der Halbmarathonläufer. Ich entdecke gerade noch Iris, die Veranstalterin der Extremsporttage in Frankfurt. Sie läuft nur den Halben, was man ja kaum als extrem bezeichnen kann. Im sozialen Netz schreibt sie jedoch, dies wäre einer der härtesten Halbmarathons gewesen.  

Mein Minimalziel ist es jetzt, auf der zweiten Runde die Halbmarathonläufer einzusammeln. Das gelingt mir, ist aber kein Triumph, denn wer hier antritt, der hat Achtung verdient. Unglaublich viele Schwämme liegen nun auf der Straße, künden von grausamen, unmenschlichen Schicksalen hier an der Grenze zur Wüste der B41. Es ist jetzt weit über 18 Grad heiß, ich müsste meine Skier neu wachsen, klebe am Asphalt. Die Luft flimmert.  Auch der „Viel Glück“-Luftballon lässt sich hängen, jeder andere Spitzenläufer hätte spätestens jetzt verletzungsbedingt aufgegeben. Ich jedoch kämpfe weiter. Pausen kann ich mir keine mehr leisten, ich muss die Eingeborenen kontaktieren. Und die sind  ebenso gut drauf, wie die in Hamburg, Hannover, Köln, oder Düsseldorf. Nur halt weniger, weswegen ich länger  verweilen muss.

 

 

Der St Wendel Marathon ist mit seinen 300 Höhenmetern ein fordernder Stadtmarathon. Ich komme wieder, auch wenn ich keine Rechnung offen habe. Auch keine für Tabak und Rum. Hier ist nicht Hamburg, Hannover, Köln oder Düsseldorf. Aber man sollte diesen Stadtmarathon nicht unterschätzen! 

 

Informationen: St. Wendel Marathon
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