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Laufberichte

Freiwillig in Kassel

10.05.09
Autor: Klaus Duwe

Als aus den beiden Deutschlands eins wurde, zog es meinen Freund Peter mit seinem Fachverlag in die Nähe von Kassel. „Um Himmels Willen, Kassel? Und das freiwillig?“. Mein Entsetzen war nicht gespielt. Ich kannte die nordhessische Großstadt zwar nur von weitem (Stichworte: Kasseler Berge, Radar), das aber gründlich. „Das ist die neue Mitte Deutschlands“, meinte er unbeeindruckt und wurde tatsächlich dort sesshaft. Durch etliche Besuche lernte ich die Region dann näher kennen und gab meine Vorurteile auf.

Mir fällt diese Geschichte ein, als vor mir ein Läufer mit rotem Shirt und der Aufschrift „Freiwillig in Kassel“ auftaucht. Er ist von der Feuerwehr. Ich möchte den Spruch noch ergänzen und sagen: „Freiwillig und sehr gerne…“

Der Marathon in Kassel erlebt seine dritte Auflage und ist bereits eine Erfolgsgeschichte. Aber keine, die man vorhersagen konnte. Als es 2007 endlich soweit ist und Winfried Aufenanger  sich gegen alle Widerstände mit seiner Marathon-Idee durchgesetzt hat, ist der „schlimmste“ Hype um den legendären Lauf bereits vorbei. Und dann Kassel – wer soll wie motiviert werden, in der ehemaligen Hauptstadt (bis 1866) Marathon zu laufen? Kassel hat zwar dank Eingemeindungen mit seinen 23 Stadtteilen fast 200.000 Einwohner, aber es ist kein Ballungszentrum und das Einzugsgebiet eher ländlich und nicht zu vergleichen mit den „Konkurrenten“ in Mannheim/Ludwigshafen,  Düsseldorf, Mainz oder gar dem Ruhrgebiet. Wenn man dort eine Veranstaltung auf die Beine stellt, die im dritten Jahr insgesamt 8500 Läuferinnen und Läufer und 85.000 Zuschauer mobilisiert, ist das eine Leistung, vor der man nur den Hut ziehen kann. Wer den Lauf und die perfekte und im Detail fast liebevolle Organisation erlebt hat, mit begeisterten Zuschauer in den Stadtteilen, im Zentrum und im Ziel gefeiert hat, weiß: das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Kassel hat weiter Potential.

Ob man mit dem Plan, den Marathon im nächsten Jahr auf einer großen Schleife zu laufen Erfolg hat, hängt von der Streckenführung ab. Sollte die Atmosphäre darunter leiden, wird sich der Mehraufwand nicht lohnen. Denn noch immer gilt: lieber eine schöne Strecke zweimal laufen, als sich auf einer Runde langweilen.

Das Veranstaltungszentrum mit Marathonmesse, Startnummernausgabe, Pastaparty und Kleiderdepot  ist auf  dem modernen Messegelände, das man von der Autobahn her gut erreicht. Etwas schwieriger ist die Anfahrt für diejenigen, die in der Stadt übernachten. Am Sonntagmorgen gibt es nämlich bereits viele Sperrungen. 

Regnen tut es in Kassel immer samstags, am Marathontag scheint die Sonne. Auch dieses Jahr. Die Skater gehen um 8.00 Uhr auf die Strecke, einer 15 Minuten später. Die Läufer sind um 8.30 Uhr an der Startlinie in der Fuldaaue versammelt Die Stimmung ist super. Die Nervosität und Unsicherheit vieler Läuferinnen und Läufer fällt auf. Sie sind zum ersten Mal bei einer solchen Veranstaltung dabei. Die meisten laufen den „Halben“ oder als Staffelläufer nur eine Teilstrecke und (leider) die weinigsten zwei Runden und damit 42,195 km. 572 Finisher werden am Ende gewertet. Das schon einmal viel, viel mehr. Mit der Qualität hat der Rückgang nichts zu tun. Eher damit, dass man den ganzen Spaß auch mit halber Leistung haben kann.

Schon nach ein paar Kilometern wird Waldau erreicht. Der Stadtteil hat so gar nichts Städtisches an sich, die schmucken Fachwerkhäuser vermitteln eher einen ländlichen Eindruck. Aber verschlafen ist man hier keinesfalls, im Gegenteil, der Ort lebt – und wie. Mancher traut so früh am Morgen Augen und Ohren nicht. Mit Ratschen und anderen Lärmutensilien machen die vielen Zuschauer den Läufern Beine, andere decken gerade den Frühstückstisch an der Straße. Es wird gelacht und gescherzt.

Das große Starterfeld hat sich längst verteilt, jeder findet seinen Rhythmus. Auch in Bettenhausen hat man längst ausgeschlafen und begrüßt die Läuferschar euphorisch. Gegen Überhitzung hat die Feuerwehr schon hier eine kalte Dusche installiert. Kaum ist der Hinweisschild „Verpflegung“ sichtbar, orientiert sich das Feld nach rechts und schließlich stürzt sich alles auf den ersten Tisch und giert nach einem vollen Becher. Als Routinier joggt man ganz gelassen etwas weiter und sucht sich am letzten Tisch unter 100 Bechern einen aus.

Die Laufstrecke

Weiter geht’s Richtung Westertor, überquert auf der Hafenbrücke (km 8) die Fulda und schaut auf  die Doppeltürme der Martinskirche, Predigtstätte des Bischofs der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden hier die hessischen Landgrafen beigesetzt.

Von der Holländischen Straße (km 9) geht es links in Mombachstraße, wo kurz nach km 10 der Staffelwechsel ist und neben den Ablösungen auch viele Zuschauer versammelt sind. Das Gedränge ist so groß, dass den Läufern nur eine enge Gasse bleibt. Statt zu klagen genießen die das Bad in der Menge. Es ist unverkennbar, die Kasselaner legen gegenüber den Vorjahren (wo sich keiner beklagen konnte) noch einmal eine Schippe drauf.

Weniger dicht bewohnt, aber keineswegs ausgestorben ist die Wolfhager Straße (km 11). In Abständen gibt es große Zuschauergruppen, Angehörige erwarten ihre Helden und motivieren sie mir Transparenten und Zurufen. Unter und über die Bahnlinien geht es jetzt Richtung Innenstadt. In mehreren Reihen stehen tausende Zuschauer Spalier und feiern die Läufer, auch auf der langen Friedrich-Ebert-Straße (km 15). Ist das Kassel, oder Hamburg, oder Düsseldorf? Alle sind begeistert, die Aktiven, die Zuschauer, die Musiker und Tänzer. Auch vor dem Rathaus und in der Königstraße sorgen wie immer viele Zuschauer für tolle Marathonatmosphäre.

Noch ein Stück geht es durch die belebte Kasseler Geschäftsstraße, dann passiert man das Fridericianum, das seit der Fertigstellung 1779 die von den hessischen Landgrafen gesammelten Kunstgegenstände beherbergt und damit eines der ersten öffentlichen Museen in Europa war. Nach einem kurzen Abwärtslauf wird die unter Landgraf  Karl 1703 – 1711 erbauten Orangerie in der Karlsaue erreicht. Endlich Schatten. Die mittlerweile knapp 20 Grad fühlen sich an wie 25. Viele machen Gehpause. Die Strecke in Kassel ist schön und abwechslungsreich, aber flach ist sie nicht. Es sind deutliche Anstiege drin – besonders die Marathonis werden dies auf der zweiten Runde spüren.

Auch hier hat die documenta hier Spuren hinterlassen. Die „Spitzhacke“ von Claes Oldenburg (1982) gehört zu den, zumindest bei der Bevölkerung, beliebtesten Kunstwerken. Die alle fünf Jahre stattfindende documenta gibt es seit 1955. Im gleichen Jahr fand die erste Bundesgartenschau in Kassel statt, 1981 die zweite. Ihr haben die Kasselaner die Fuldaauen, dieses herrliche, stadtnahe Erholungsgebiet, zu verdanken.

Während auf der Fulda gerudert oder gepaddelt wird, sich die „Halben“ zum Endspurt bereit machen und die Marathonis sich mental auf die zweite Runde vorbereiten, sitzen in den vielen Cafés und Kneipen die Leute im Schatten bei Weizenbier, Sekt oder Kaffee im Schatten, geizen aber nicht mit Applaus und Anerkennung.

Noch zwei Kilometer. Die Zuschauerdichte nimmt zu und damit auch der Lärmpegel. Ohrenbetäubender Lärm schlägt den Läufern auf den letzten 500 Metern entgegen. In Dreierreihen drängen sich die Zuschauer links und rechts an den Banden, die Tribünen sind voll besetzt. Der Zieleinlauf ist grandios und für die Aktiven ein Erlebnis.

Auch als zwei Stunden später die meisten Marathonis nach einer weiteren Runde das Ziel erreichen, hat die Stimmung nicht spürbar nachgelassen. Das ist keine regionale Veranstaltung, der Kassel Marathon ist in der Bundesliga angekommen. Ich komme wieder, freiwillig.

Impressionen

Marathonsieger

Männer

1  Biwott, Josef  Ken  1  M20  Kenia  02:13:11  
2  Muriuki, Patrick  Ken  2  M20  Kenia  02:13:43   
3  Loywapet, Samson  Ken  3  M20  Kenia  02:17:50 

Frauen

1   Loywapet, Ecler  GER  1  W20   02:37:36   
2   Kiprono, Prisca  Ken  2  W20  Kenia  02:41:02 
3   Westermann, Rike  GER  3  W20  Nordrhein-Westfalen  02:57:53 

Finisher Marathon: 572

 

Informationen: Kassel Marathon
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