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Laufberichte

Vorwärts, Kameraden

 

Beinahe bin ich froh, als es nach Montrose hinauf etwas ruhiger wird. An der langen Steigung stehen nur die Hardcore Fans. Doch die Ruhe wehrt nur kurz. Die Old Main Road führt wieder durch Massen von Zuschauern, die es sich an der Strecke bequem gemacht haben. Ein Banner über der Straße kündet das Kearsney College an. Die Tribüne ist bereits verlassen aber zahlreiche Schüler stehen noch vor dem Tor des alteingesessenen Schulkomplexes und feuern uns an. In ihren eleganten, graublauen Anzügen wirken sie etwas deplatziert in dieser ansonsten lockeren Umgebung.

Es geht nun leicht bergab. Nanu, ich dachte Bothas Hill ist oben. Hinter einer Kurve geht es dann aber doch bergauf und kurz vor Kilometer 37 haben wir den dritten Berg geschafft. Wir sind jetzt so um die 800 m Hoch und bewegen uns mehr oder weniger auf diesem Niveau. Obwohl die höchste Erhebung noch aussteht, sollte der Lauf nun leichter werden. Man sagt, dass beim Comrades insgesamt 5 Berge, die Big Five, zu überwinden sind: Cowies Hill, Fields Hill, Bohtas Hill, Inchanga und Polly Shorts. Wieso in dieser Aufzählung die höchste Erhebung Umlaas Road fehlt, ist mir ein Rätsel.

Wir kommen am Phe Zulu Safari Park vorbei. Kein Tier ist zu sehen und das ist auch gut so. Auf Krokodile und Schlangen habe ich gerade keine Lust. Dafür freue ich mich an der weiten Aussicht auf Afrikanisches Buschland. Auch die lange Steigung kann meine Laune nicht trüben. Ich stecke wieder im Pulk eines Busses. Diesmal lasse ich sie ziehen, denn Sie sind mir bergauf einen Tick zu schnell. Trotz der einsamen Gegend haben sich mehrere hundert Fans entlang der Straße aufgereiht um mit Partyzelt und Grill ausgestattet die Läuferschar anzufeuern. Hinter der nächsten Kurve kommt mir die Gegend bekannt vor. Hier befindet sich die Wall of Honour. Jeder Finisher kann einen Stein mit seinem Namen setzen lassen. Alle großen Läufer sind hier verewigt. Mittlerweile musste die Mauer verlängert werden, um die Namen der vielen Finisher aufzunehmen. Von hier hat man eine grandiose Aussicht auf das Tal der tausend Hügel.

Ein paar hundert Meter weiter liegt Arthur’s Seat, eine Einbuchtung in der Böschung neben der Straße. Der fünfmalige Comrades-Sieger Arthur Newton hatte hier auf seiner Trainingsstrecke seinen Pausenplatz. Einer Legende zufolge wird es Läufern, die hier während des Laufs eine Blume mit dem Gruß „Good morning Sir“ niederlegen, auf der zweiten Hälfte des Laufes gut ergehen. Diesmal lasse ich das mit der Blume. Nur kurz unterbreche ich meinen Lauf um Arthur zu grüßen. Man weiß ja nie! Dann geht es bergab. Rechts und links der Straße wird gegrillt und gefeiert. Ich höre einen Sprecher. Gerade spricht er von „the German Woman who salutated at Arthurs Seat“. Meint der mich? Ich winke und er winkt zurück. Applaus und „Germany, Germany“- Rufe empfangen mich.

Gerade hab ich mich wieder beruhigt, da erreichen wir Drummond und damit ist die Hälfte der Strecke geschafft. Hier kocht die Stimmung:  laute Musik wummert,  ein Moderator begrüßt die Läufer und das zahlreiche Publikum scheint jeden Einzeln anzufeuern. Die Uhr zeigt 5:59:34. Das ist zwar 15 Minuten bis Cutoff, aber tatsächlich die Hälfte der zur Verfügung stehenden Zeit. Ich muss also den zweiten Streckenabschnitt genauso schnell laufen wie den ersten. Das wird knapp.

Zunächst erfreue ich mich aber an dem Spektakel der vorbeikommenden Läufer, ich mache nämlich eine kurze Toilettenpause. Die Dixies, an denen ich seither vorbeigekommen bin, haben schon von außen zu sehr gestunken. Hier in Drummond stehen etwas abseits eine Reihe Dixies, die wohl für die Zuschauer aufgebaut sind. Alles sehr gepflegt und benutzerfreundlich. So ist es recht.

Hinter Drummond folgt eine lange Steigung. Noch geraume Zeit können wir den Sprecher hören. Er verkündet den Cutoff. Man merkt, dass im Feld das Mitleid mit den nun aus dem Rennen Genommenen groß ist. Von hinten ist Motorenlärm zu hören. Und dann kommt sie, die Karawane der Busse mit den ausgeschiedenen Läufern. Die Stimmung im Feld ist gedrückt. Erst als wir auf dem Gipfel von Inchanga, dem dritten Berg, von Schlachtenbummlern lautstark begrüßt werden, können wir den Lauf wieder genießen.

Übrigens hat sich die Verpflegungssituation mittlerweile drastisch verändert. Es gibt überall genügend Wasser, Cola mit Bechern, Energade in verschiedenen Farben, Orangen, Bananen, Kekse, Kartoffeln, irgendetwas in blauer Verpackung, dann etwas in Beuteln. Dazwischen bieten immer wieder auch Privatpersonen diverse Erfrischungen. Da ich ja Selbstversorger bin, bediene ich mich nur am Obst.

Wir haben noch 40 km vor uns. Jeder Kilometer wird durch große Schilder angezeigt, allerdings  wird rückwärts gezählt, wie viel noch zu laufen ist. Das war bisher eher wenig motivierend. Jetzt ist aber die „3“ vorne. Das macht Laune.  Wir laufen in brütender Hitze, denn Schatten gibt es so gut wie keinen. Mit viel Trinken und Kühlen geht es mir aber ganz gut. Nur die Beine machen Ärger. Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, gleich einen Krampf zu bekommen. Dann passiert es: ich bremse für die nächste VP und der Oberschenkel macht komplett zu. Ich gieße mir kaltes Wasser über den Schenkel, dann geht es wieder. Vorsichtig laufe ich weiter. Ein Schild kündigt den 4. Cutoff für 13Uhr40 an. Meine Armbanduhr zeigt 13Uhr27. 13 Minuten müssten aber für den folgenden Kilometer reichen. Bloß keinen Krampf bekommen!

Beim Weiterlaufen bemerke ich, dass ich mich versehen habe. Diesmal zeigt die Uhr nämlich 13Uhr25. Ich kann mich etwas entspannen. Dann kommt plötzlich Unruhe auf. Zuschauer rufen: „Only one minute to Cutoff!“ Ich kann das Schild schon sehen. Jetzt aber schnell. Alles um mich herum spurtet los, ich mitten drin. Dann kommt die Entwarnung: Es sind doch noch 10 Minuten. Vermutlich hatte es sich nicht bis zu allen herumgesprochen, dass die Cutoff-Zeiten wegen der zusätzlichen 700 m verlängert wurden.

Zufällig fährt gerade ein Auto mit großer Digitaluhr auf dem Dach vorbei. Ich bin bei 8 Stunden. Also immer noch 10 Minuten vor Cutoff in Cato Ridge. Die Zielzeit von 12 Stunden ist allerdings nicht verlängert worden und man sagt, dass man hier 20 Minuten vor dem ursprünglichen Cutoff sein sollte, um das Ziel sicher zu erreichen. Bin ich eigentlich schon zu spät? Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Was soll ich tun? Ich habe noch gut 29 Kilometer, 4 Stunden Zeit und 2 Cutoffs. Also weiter, bis mir einer sagt, ich darf nicht mehr. Mit diesem Plan im Kopf wird es plötzlich leichter. Von nun an genieße ich jeden Kilometer doppelt. Und wegen der Krämpfe gehe ich zu den Physiotherapeuten die überall an der Strecke verteilt sind.

Die weiten, ausgetrockneten Wiesen hinter Cato Ridge sind zugeparkt und überall stehen Menschen an der Strecke. Es wird gegrillt und so manche zusätzliche Verpflegung an die Läufer verteilt. Hier ist es ein paar Kilometer richtig flach. Noch 26 km. Eine Brücke führt uns über die Autobahn. Der Anstieg hat es in sich. Oben sieht man einige Läufer mit Krämpfen und welche, die gerade ihren Magen leeren. An der nächsten VP überhole ich Ulli, der eigentlich daran Schuld ist, dass ich überhaupt hier in Südafrika bin. Er hat sich letztes Jahr seine Green Number erlaufen. Die bekommt man nach 10maligem Finishen. Heute geht es ihm gar nicht gut und er wird aussteigen.

Hinter km 25 erreichen wir die sogenannte Green Mile. Hauptsponsor NedBank hat eine gefühlte Meile lang einen grünen Teppich für die Läufer ausgerollt. Überlebensgroße Figuren, Chearleader und diverse verkleidete Superhelden unterhalten Zuschauer und Läufer. Es gibt Musik und einen Moderator. Gerade haben sie zum Spaß einen der Kleinbusse angehalten, der die ausgeschiedenen Läufer zum Ziel bringt. Ob das für die Insassen auch so spaßig ist?

Wir nähern uns den riesigen Hühnerfabriken, die sich je nach Windrichtung durch beißenden Gestank bemerkbar machen. Die Luft steht und so geht es einigermaßen. Für mich ist das heute nur die Wegmarke, die mir sagt: es ist nicht mehr weit. Den Cutoff bei Umlaas Road bei km 20 (noch zu laufen) überquere ich mit 6 Minuten Reserve. Hier ist die Strecke für Zuschauer gut zu erreichen und einige Hundert feuern die Läufer an. Dann geht es bergauf. Oben befindet sich in 820 m Höhe der Wasserturm von Umlaas Road, der höchste Punkt der Strecke. Ein weißer Betonmischer und eine ebensolche Betonpumpe kurz vor der Kuppe fesseln meine Blick und so sind die letzten Meter vor dem Gipfel schnell geschafft. Oben heißt es kurz durchatmen, dann geht es bergab. Nicht steil aber ständig fällt die Straße nun, so dass km 18 und 17 fast vorbeifliegen. Hinter einer kleinen Steigung hat ein weiterer Haupsponsor Bonitas die Strecke in rot-weiß geschmückt. Fast surreal wirkt die Deko in der Afrikanischen Savanne.

Ich laufe auf Manfred auf. Der Deutsche Läufer kommt trotz seiner starken Seh- und Hörbehinderung gut voran. Weil er die Schilder aber kaum lesen kann, tauschen wir kurz Informationen aus. Ich erwähne aber nicht, dass ich denke, dass wir es vielleicht nicht schaffen könnten. Das würde ihn sicher auch nicht weiter bringen. Dann verliere ich ihn wieder aus den Augen.

An einer Kreuzung geht es links. Dort, wo die Straße unter der Autobahn hindurchführt, ist wieder eine Stelle, die die Zuschauer leicht mit dem Auto erreichen können. Entsprechend viel ist auch los. Die Sonne kommt nun schräg von vorne und es geht weitgehend flach. Man kann die Läuferschlange bereits Kilometer voraus erkennen. Km 15, 14, 13 und 12 kommen vorbei. Immer wieder wechseln sich ruhige und belebte Abschnitte ab. Auch die Zuschauer sind müde. Alleine ihre Anwesenheit ist motivierend und macht Freude. Aber es natürlich auch applaudiert und angefeuert.

Mittlerweile werden die Schatten länger und ich habe das Gefühl, dass es kühler wird. In Ashburton wird immer noch, oder schon wieder gegrillt. Hier sind viele Menschen an der Straße. Sogar eine Dusche ist aufgebaut. Ich nutze nochmal die willkommene Abkühlung. Es sind nur noch 10 Kilometer und wir warten auf den Anstieg nach Polly Shorts. Dort wird um 16Uhr40 der letzte Cutoff sein. Keine Ahnung, ob das reichen wird.

Hinter einer Kurve wird es Pink. Menschen in pinkem Outfit vor pinkfarbigen Zelten und pinkfarbigen Autos stehen Spalier und feuern uns an. Es geht bergauf. Ich laufe auf einen Deutschen Läufer auf. Klaus will wissen, ob es noch reichen wird. Wahrheitsgemäß antworte ich, dass ich glaube, dass es knapp wird. Ich behalte die Uhr im Auge. Als ein Schild den Cutoff nach einem Kilometer ankündigt, ist es 16Uhr27. Um 16Uhr40 wird dort dicht gemacht. Das müsste eigentlich auch im Gehen reichen. Es nützt ja nichts, hier hoch zu joggen und dann kurz vor dem Ziel mit Krämpfen aufzugeben.

Dieser Kilometer zieht sich gewaltig. Gerade als ich überlege doch anzulaufen, bin ich aber oben. Hier wird ein Rückwärtsläufer während dem Laufen von einem Reporter mit Kamera interviewt. An der VP bekomme Eis zum Kühlen. Wo ist die Zeitmessmatte? Dann sehe ich vor mir einen großen Bildschirm, auf dem man die Läufer über die Zeitmessung laufen sieht. Dann bin ich auch schon vorbei.
So, jetzt sind es noch etwas über 7 km und ich habe noch 55 Minuten Zeit. Das kann gehen, wenn ich nicht doch noch einen Krampf bekomme. Man merkt, dass wir jetzt im Einzugsgebiet einer größeren Stadt, Pietermaritzburg, sind. Viele Menschen sind an der Strecke. Die ständigen Germany, Germany-Rufe machen Laune. Jetzt will ich es aber nicht mehr riskieren und versuche, konzentriert zu laufen. Dass es tendenziell bergab geht, erleichtert das ganze. Es ist nun auch deutlich kühler geworden. Trotzdem trinke und kühle ich weiter. Das Feld wird immer größer. Die meisten gehen. Ich überhole jetzt, wie auch schon im letzten Jahr, hunderte von müden Läufern.

Als ich am 4 km-Schild vorbeikomme, meine ich, in der Ferne einen der 12-h- Pacer-Busse zu erkennen. Wenn ich den erreichen würde, müsste ich es rechtzeitig schaffen, das Ziel zu erreichen. Tatsächlich komme ich ihm immer näher. Endlich sind wir in Pietermaritzburg. Es geht nochmal bergauf. Am Ende der Steigung habe ich den Bus tatsächlich erreicht. Nun ist die Strecke bereits rechts und links gesperrt. Als der Pacer eine Gehpause einlegt, ist mir das zu langsam. Im Slalom schaffe ich es, durch das dichte Feld zu laufen. Dann bin ich durch. Die letzte VP lasse ich seitlich liegen.

Wie ein Sieger fliege ich über die von schreienden Fans flankierte Strecke. Sie rufen, dass die Zeit bis zum Torschluss auf jeden Fall reichen wird. Hier realisiere auch ich, dass ich es tatsächlich schaffen werde. Auf einer Welle aus Glücksgefühlen und Endorphinen reite ich dem Ziel entgegen. Für diesen Moment hat sich die ganze Mühe gelohnt. Der letzte Kilometer ist angebrochen. Die Uhr zeigt 11:48:55.

Ich schwebe befreit durch das kleine Steintor auf eine Allee aus Zelten. Überall wird gefeiert. Dann geht es um die Kurve ins Stadion. Letztes Jahr war ich früher dran und die Stimmung hat bereits gekocht. Was sich aber heute hier abspielt, ist nicht mit Worten zu beschreiben. Es ist so laut, dass mir noch Stunden später die Ohren klingeln. Die Luft scheint zu vibrieren. Ich laufe immer noch in einem relativ dichten Feld und doch scheinen alle nur mich anzufeuern. Ich wünsche mir, dass dieser Moment nie endet.

Nach zwei weiteren Kurven ist das lang ersehnte Ziel plötzlich vor mir. Ich falle ins Gehen, um den Moment länger zu genießen zu können. Neben mir schlägt einer ein Rad, ein anderer kniet nieder. Dann bin ich über die Ziellinie. Natürlich muss man hier weiter gehen, denn es wollen ja noch viel mehr Läufer durchs Ziel. Als es etwas Platz gibt, bleibe ich dann doch erst einmal stehen. Ich schaue in die glücklichen Gesichter um mich herum. Wir fallen uns in die Arme und beglückwünschen uns gegenseitig. Nach ein paar Minuten verlasse ich den Zielbereich, nicht ohne vorher meine Medaille zu bekommen. Sie ist wegen des Jubiläums größer als sonst. Dann suche ich die Ausgabe der Back in Back Medaille, die nur im Folgejahr einer erfolgreichen ersten Teilnahme erlaufen werden kann.

Der Zielbereich ist voll von erschöpften, aber überglücklichen Menschen. Ich quetsche mich zum Ausgang durch und dann zum Zelt der internationalen Läufer. Dort ist die deutsche Gruppe bereits versammelt. Gegenseitige Glückwünsche sind angebracht. Norbert hat es auch geschafft. Doppelte Gratulation. Leider gab es auch einige Ausfälle. Doch alle sind wohlbehalten da und das ist die Hauptsache. Auch Klaus und Manfred konnten finishen. Es gibt Pasta oder Curry und Getränke. Leider ist das Bier schon aus. Später begeben wir uns zum Ausgang und dann zum Bus. Der Bus der Reisegruppe um Werner Otto hat etwas entfernt geparkt. So gelingt es relativ schnell, dem jetzt herrschenden Verkehrschaos zu entrinnen.

12.731 Läufer kommen innerhalb des Zeitlimits von 12 Stunden ins Ziel, davon 5177 in der letzten Stunde und 1400 in den letzten 10 Minuten. Von den Voranmeldern waren knapp zweidrittel Wiederholungstäter. Viele sind schon  zwanzig oder noch mehr Male dabei. Was macht den Reiz dieser Veranstaltung aus? Vermutlich hat da jeder seine eigene Motivation. Norbert und ich überlegen derzeit ernsthaft, die Green Number anzugehen. Können wir es schaffen, noch 8 Jahre fit und gesund zu bleiben, um jedes Jahr diese Mörderstrecke erfolgreich in Angriff zu nehmen? Vielleicht haben wir dann zum 100. Comrades Marathon eine grüne Nummer.

 

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