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Laufberichte

Never jump into a rescue bus

 

Nach etwas mehr als 6 Minuten passiere auch ich die Startlinie. Dazu muss man wissen, dass bei diesem Lauf nur Bruttozeit (gun to gun) gilt. Die per se schon Langsameren aus den hinteren Startblöcken starten zum Schluss, haben also noch ein zusätzliches Handicap. Auf der riesigen Videoleinwand kann man das Starterfeld erkennen. Dicht gedrängt stehen Zuschauer auf den Tribünen und am Rand der abgesperrten Strecke. Ich passiere die Werner Otto Gruppe. Dann konzentriere ich mich ganz aufs Laufen.

Ich schaffe es unfallfrei und auch um mich herum ist alles im grünen Bereich. Die ersten Steigungen lasse ich mich von der Menge mitziehen. Wir verlassen den Ort. Es geht um die Kurve wie in ein dunkles Loch und dann bergab. Ich werde erst sicherer, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Beim Anstieg nach Polly Shorts fallen fast alle ins Gehen. Um meinen Rhythmus zu finden, wechsle ich auf den Gehweg. Ich bin bergauf doch zu langsam. Das gleiche ich aber bergab wieder aus. Die Straßenränder sind ganz gut zu belaufen. Bei der Streckenbesichtigung konnten wir sehen, dass noch mal vorsorglich gemäht wurde.

Die erste Verpflegungsstelle bei km 4 lasse ich aus. Langsam wird es heller. Um Viertel vor sieben geht die Sonne auf und taucht die Landschaft in orangenes Licht. Es wird Zeit, mir den Ablauf an den Verpflegungsstellen anzusehen. Unzählige Helfer sind damit beschäftigt, an langen Tischen Getränke an die nicht enden wollende Schlange der Läufer zu verteilen. Wasser wird in kleinen verschweißten 100 ml Beutelchen ausgegeben. Gatorade in blau, grün und orange entsprechend den verschiedenen Geschmacksrichtungen, ist ebenfalls so verpackt. Cola gibt es im Becher. Laut Ausschreibung werden erst ab km 40 Bananen angeboten. Da die 47 Verpflegungsstellen von verschiedenen Gruppen betreut werden, ist das Angebot vorher nicht bekannt. Zur Vorsicht habe ich Früchteriegel und Gel dabei.

Ich greife nach Wasser. Mit den Fingern bekomme ich das Beutelchen nicht auf. Mit den Zähnen geht es. Jetzt klemmt ein Stück Folie zwischen den Zähnen. Mit einiger Mühe puhle ich das wieder heraus. Dieses Problem wird mich bis ins Ziel verfolgen. Gleichzeitig muss ich mich auf die weggeworfene Beutelchen und Becher konzentrieren und auf die durcheinander laufende Mitläufer aufpassen. Es ist toll, wenn einer auf ein volles am Boden liegendes Beutelchen tritt. Mit lautem Knall entleert es sich nach allen Richtungen auf die Beine der Nebenmänner und -frauen. Allmählich lasse ich das Chaos hinter mir. Ich probiere verschiedene Trinktechniken. So beschäftigt, erreiche ich bereits die nächste VP. Also, verdursten werde ich hier nicht.

Um sieben Uhr ist es hell. Ich genieße die Landschaft und freue mich, hier sein zu dürfen. Ohne Pause stehen Zuschauer vereinzelt und in Gruppen an der Strecke. Jeder feuert uns an. Viele hoffen auf Kleidungstücke, die von den Läufern am Straßenrand zurückgelassen werden. Ich hatte mein Sweat- Shirt bereits am Start gelassen. Andere entledigen sich erst hier von überflüssigem Stoff.

Verstohlen beobachte ich meine Mitläufer. Ich bewundere die aufwendigen Frisuren, mit denen sich die Südafrikaner gerne schmücken. Endlich kann ich so manche üppige Haarpracht aus der Nähe betrachten ohne aufdringlich zu erscheinen.

Jeder Kilometer ist mit 2 Meter hohen Schildern gekennzeichnet. Die Zahlen geben die noch zu laufende Strecke an. Ab km 73 kommen wir an riesigen Hühnerfarmen vorbei. Wer sich allerdings glückliche Hühner vorstellt, wird enttäuscht. Lange fabrikähnliche Hallen sind das Zuhause von Millionen von Federvieh. Ein beißender Geruch hängt über der Strecke.

Wir suchen schnell das Weite. Kurz vor km 70 ist ein aufwendig geschmückter Abschnitt. Hier steht das Fernsehen. Der Lauf wird ja 12 Stunden lang live im Fernsehen übertragen. Wir lachen in die Kamera und versuchen locker auszusehen. Mir geht es gut. Ich bin tatsächlich locker unterwegs. Bei km 60 stecke ich plötzlich in einer großen Gruppe fest. Hier ist ein sogenannter „Bus“ unterwegs. Wie bei unseren Brems- oder Zugläufern führt hier einer die Läufer zu einer bestimmten Zielzeit. Meiner ist der für unter 12 Stunden. Da bleibe ich erst einmal dran. An einer größeren Steigung kann ich nicht mithalten und verliere den Anschluss. Da kommt schon die nächste Gruppe von hinten. Es scheint wohl mehrere Zugläufer für unter 12 Stunden zu geben.

Bei km 62 (noch zu laufen) sehe ich plötzlich einen alten Bekannten: Klaus Neumann im Germany Shirt. Nach kurzer Unterhaltung macht er sich nach vorne davon. Ich behalte mein Tempo bei. Ungefähr bei km 60 passieren wir ein Schild, auf dem der erste Cut off in einem Kilometer Entfernung angekündigt wird. Hier muss man bis 10 Uhr 40 durch sein. Es ist gerade 9 Uhr 40. Am Cut off Punkt gibt es ein Zeitmessmatte, einige Zuschauer und viel Applaus.

Wir erreichen die Ethembeni School for Handicapped Children. Wie erwartet, sind hier alle Kinder da um die Läufer anzufeuern. Ich klatsche unzählige Kinderhände ab. Ohne es zu merken, bin ich deutlich schneller geworden. Sobald die Strecke wieder ruhiger wird, muss ich das korrigieren.

Mittlerweile ist es ganz schöne warm geworden. Lange war die Sonne hinter einem Dunstschleier verborgen und konnte ihre volle Kraft nicht ausspielen. Zwischenzeitlich gibt es doch einige Sonnenlücken, wo es dann sofort richtig heiß wird. Kühlen ist angesagt. An den VP geht es immer noch hoch her. Den ersten eisgekühlten Wasserbeutel lehre ich mir jetzt direkt auf den Kopf. Eine Cola wegen dem Zucker, dann greife ich noch einen Wasserbeutel für unterwegs. Den kalten Beutel benutze zunächst zum Kühlen, dann wird er getrunken. Das reicht bis zur nächsten VP. Schon lange gibt es Orangenschnitze und Banane. Manchmal Energieriegel, Kekse und gesalzene Kartoffeln. Wem das noch nicht reicht, kann von den Zuschauern belegte Brote, noch mehr Kekse, noch mehr Kartoffeln und was weiß ich sonst noch alles bekommen.

11 Uhr 21, nach 5 Stunden und 51 Minuten habe ich die Hälfte geschafft. Noch 20 Minuten bis zum Cut off. Hier tobt die Menge. Der Sprecher begrüßt uns mit den Worten: „Diese hier haben den Cut off geschafft - sie werden auch rechtzeitig finishen.“ Das motiviert. Ich weiß nun, dass ich es schaffen werde.

Die Gegend erscheint mir von der Bustour bekannt. Ein grandioser Ausblick ins Tal der 1000 Berge begleitet uns schon einige Kilometer. Hinter der nächsten Kurve müsste sich „Arthurs Seat“ befinden. Wo zum Teufel bekomme ich jetzt eine Blume her? Naja, ein grüner Zweig tut es vielleicht auch. In der Felsennische liegt bereits ein bunter Strauß. Ich werfe meine Ästchen dazu und habe vergessen, was man sagen muss. Ich versuche es mit „Guten Morgen“. Hoffentlich nimmt Arthur das nicht allzu genau. Vor der „Wall of fame“ wird heftig gegrillt und ein Partyzelt reiht sich ans nächste. Die Stimmung unter den Zuschauern ist super. Wir kämpfen uns den Berg hinauf.

An der nächsten VP ist alles in Pink. Ein riesiges Früchte-, Kartoffel- und Keksbuffet ist aufgebaut. Wir plündern das Wasser. Man kann gar nicht so schnell kühlen, wie es heiß ist. Noch 42 Kilometer. Es geht ständig bergauf. Nun hat mich schon wieder ein 12 Stunden „Bus“ überholt. Die Leader motivieren die Läufer mit Sprüchen und Anweisungen. Aber Bergauflaufen kommt für mich nicht in Frage und so lasse ich die Gruppe ziehen.

Ein Auto mit der Zeitmessung überholt uns. 6:34 lese ich bei km 39 (noch zu laufen). Das MUSS reichen. Ich habe heute auf mein „Germany Shirt“ verzichtet. Eigentlich wollte ich es über das Kurzarmshirt ziehen. Aber bei einer Temperaturvoraussage von 32 °C wäre das zu warm geworden. Trotzdem werde ich wegen meines Vornamens oft als Deutsche angesprochen. Von Mitläufern ebenso, wie von Zuschauern. Das macht unheimlich viel Freude und spornt an.

Ab und zu gibt es eine Dusche auf der Strecke. Ich nutze jede Möglichkeit zum Erfrischen. Mir tun die Füße weh und ich bin hammermüde. Sehnsüchtig warte ich auf Hills Crest, wo die Werner Otto Gruppe stehen soll. Dann sind es nur noch 35 km. Endlich sehe ich die langgezogene Fanmeile. Die gelben Fahnen sind schnell ausgemacht. Ein kurzes „Hallo“ und schon bin ich vorbei.

In Winston Park ist der nächste Cut off mit 8 Stunden 30. Gerade kommt wieder eine fahrende Uhr vorbei. Sie zeigt 7:40. Das sieht gut aus. Vor mir befindet sich augenscheinlich ein „Bus“. Das merkt man, wenn auf einmal die Strecke knalle voll ist. Ich bin so platt, dass ich beschließe, mich einzuhängen. Zumindest bis es ca. 10 km vor dem Ziel endgültig bergab geht. In so einem Bus ist ständig etwas los. Der „Leader“ gibt Kommandos und die Gruppe antwortet, was so einem militärischen Sprechgesang gleicht. Psychologisch schlau: Man bekommt ein Gruppengefühl und wird mitgetragen. Hier gefällt es mir, hier bleibe ich. Auch die Zuschauer honorieren einen „Bus“. „Stay in the bus“ oder „Don`t leave the“ bus“ - die lautstarke Aufforderung auf jeden Fall im „Bus“ zu bleiben ist die gängige Anfeuerung von allen Seiten.

An der VP wird es jetzt chaotisch. Das Wasser scheint aus zu sein. Verzweifeltes kopfloses hin und her Gerenne ist die Folge. Ich behelfe mich mit Gatorade. Das ist aber keine Lösung. Ich muss vor den Bus kommen. Inzwischen ist der Leader aber weiter gelaufen. Gerade habe ich ihn eingeholt, da kommt die nächste VP. Ich greife mir das nächstbeste Wasser und laufe ohne anzuhalten voran. Endlich bin ich dem Pulk entkommen.

Aber nicht lange, dann kommt die Gruppe schon wieder und verschluckt mich. Da spricht mich Klaus von hinten an. Von Krämpfen geplagt hat er vor, mit dem „Bus“ ins Ziel zu laufen. Langsam erwachen meine Lebensgeister wieder. Klaus wird wegen seines auffallenden Germany-Shirts gefeiert. Mir kommt es vor, als ob es die Einheimischen schwer glauben können, dass jemand 10 000 Kilometer fährt, um an einem Lauf teilzunehmen. Es ist aber kein Neid, sondern Stolz auf dieses großartige Event, der aus ihrer Begeisterung spricht.

Wir plaudern noch ein bisschen, dann muss ich weiter. Die Busse haben einen festen Rhythmus, der aus abwechselndem Gehen und Laufen besteht. Und der wird strikt eingehalten. Es wird also im Extremfall bergauf gelaufen und bergab gegangen. Meine Meinung zum Bergauflaufen hab ich ja schon gesagt. Genauso ist Bergabgehen ein no go für mich.

Die Strecke geht jetzt auf breiten Straßen tendenziell bergab. Es ist zwar anstrengend, aber ich kann jetzt locker laufen und überhole unzählige Geher. Wenn sich vor mir die nächste Läuferwand auftut, weiß ich, dass ich wieder einen Bus eingeholt habe.

Am cut off von St. Johns Avenue oder Cowies Hill mit 10 Stunden komme ich mit 9 Stunden 16 durch. Es sind jetzt keine 20 Kilometer mehr. Mittlerweile habe ich mich vor den dritten 12 Stunden Bus gesetzt. Ich bin gespannt, wann die mich wieder einholen. Wir haben die ersten Vororte von Durban erreicht. Die Zuschauer werden immer zahlreicher. Obwohl der Führende wahrscheinlich vor gut 4 Stunden hier vorbei gekommen ist, werden sie nicht müde, uns anzufeuern. Wegen der Hitze bieten die Zuschauer immer wieder Getränke an.

Es geht schon wieder bergauf. Von hinten kann ich bereits die Kommandos des Busführers hören; da flüchte ich schnell bergab. Und das Gefälle zieht sich. Als ich mir wünsche, dass es endlich wieder bergauf geht, wird es flacher. Ich muss nun eine Gehpause einlegen. Aber nur kurz, dann geht es wieder bergab. Noch 11 – 10 - 9 Kilometer. Die Gegend wir immer städtischer. Ist hier schon die Autobahn? Die dreispurige Straße ist voll mit Läufern.

Den letzten Cut off bei km 82,2 durchlaufe ich mit 10 Stunden 47. Es geht noch mal eine längere Steigung hinauf. In der Ferne sind die ersten Hochhäuser Durbans zu erahnen. Langgezogen ist das nächste Gefälle und hinten geht es wieder bergauf. Wo bleibt denn die schöne Bogenbrücke, von wo aus man den tollen Blick auf die Durbaner Skyline genießen kann? Da ist eine Brücke, dann noch eine, dann sehe ich sie. Oben am Anstieg stehen viele Zuschauer. Unter lautem Jubel laufen wir unter der Brücke durch und haben die City von Durban zu unseren Füßen. Es dämmert schon und die Hochhäuser in der Ferne scheinen im letzten Sonnenlicht zu baden. Gebannt laufen wir dem Ziel entgegen.

Es geht bergab. Die Autobahn kennen wir bereits von der Bustour. Seit mehreren Kilometern werde ich von einem Krankenwegen begleitet. Er sammelt entkräftete Läufer auf und hat einiges zu tun. Immer wieder sitzen am Straßenrand geschwächte Läufer. Vor mir ist wohl einer gestürzt. Blut überströmt liegt er auf der Straße. Einige Läufer sind bei ihm. Der Krankenwagen kommt nun auch.

Unten ist der Bahnhof mit den riesigen Markthallen. Wie in Trance laufe ich auf der gesperrten Straße in die Innenstadt. Hier gehen die meisten. Ich will jetzt endlich ins Ziel. Obwohl ich auch gerne gehen würde, zwinge ich mich zu Laufen. Wir passieren die Messe, das imposante Hilton Hotel kommt in Sicht. Jetzt ist es noch ein knapper Kilometer.

Am Stadioneingang steht die Uhr auf 11:33. Der Jubel der vielen Zuschauer ist bereits zu hören. In diesem Moment ist der Akku von meinem Fotoapparat leer. Wir müssen noch um einige Ecken dann spüre ich Gras unter meinen Füßen und laufe in einen Hexenkessel aus Lärm und Emotionen. Ich sehe die Zuschauer, die am Gitter des Innenraums stehen und erahne die vollen Ränge. Ich habe es tatsächlich geschafft. Noch eine kleine Runde, jetzt ist das Ziel in Sicht. Wie betäubt überquere ich die Ziellinie und lasse mich von einem Helfer zu den Medaillen führen.

Bei der Zielverpflegung erwartet mich Norbert und führt mich durch ein unglaubliches Gedränge zum Zelt der „Internationals“. Hier werde ich von der Werner Otto Gruppe schon erwartet und dann beglückwünschen wir uns erst einmal gegenseitig. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen.

Auf der großen Videoleinwand kann ich miterleben, wie die 12 Stunden „Busse“ das Stadion erreichen. Die Stimmung geht auf den Höhepunkt zu. Kurz vor Zielschluss raffe ich mich noch mal auf. Mit den anderen gehen wir vor zum Gitter, um die letzten Finisher ins Ziel zu schreien. Wir stehen vor der letzten Kurve. Es wird herunter gezählt. 5,4,3,2,1 eine Schuss ertönt und das Ziel wird gnadenlos geschlossen. Für alle die jetzt noch auf der Strecke sind, gibt es kein Finish. Die Zuschauer leiden mit den erschöpften und enttäuschten Kämpfern und zollen unvermindert Beifall. Ob dies allerdings ein Trost ist, wage ich zu bezweifeln. Langsam verebbt der Applaus.

Es ist nun eine Woche vergangen. Plötzlich im Alltag kommen die Erinnerungen: Der emotionale Start, diese grandiose Landschaft, das fantastische Publikum und der sensationelle Zieleinlauf. Es ist eine Mischung aus Berlin Marathon und Rennsteiglauf auf 90 Kilometern. Jetzt müssen Norbert und ich nächstes Jahr noch mal hin. Für Läufer, die den Comrades in zwei aufeinander folgenden Jahren (Up- und Downhill) gefinisht haben, gibt es die Back-to-Back Medaille und außerdem ist 90 jähriges Jubiläum.

Hier kommt noch ein guter Rat zum Schluss:

When the going becomes impossibly tough and fatigue is overwhelming....
hang in....keep walking...

and NEVER NEVER NEVER jump into a rescue bus.
(steig niemals in den Besenwagen)

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