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Laufberichte

Never jump into a rescue bus

 

Eine meiner liebsten Beschäftigungen ist Lesen. Und ganz oben auf meiner Liste steht das Lesen von Laufberichten. Abtauchen auf unbekannte Strecken, mit dem Schreiber siegen und verlieren; auf dem Sofa entstehen die Pläne für unsere nächsten Events. Als ich den ersten Bericht vom Comrades-Ultramarathon in die Finger bekam, war ich fasziniert. Ich suchte und fand unzählige Berichte von Schlachten, die hier geschlagen wurden, von sagenhaftem Triumphen und unvorstellbaren Tragödien.

Norbert war schnell davon zu überzeugen, dass wir da unbedingt hin müssen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Im letzten Herbst haben wir bei Werner Otto, dem Reiseveranstalter unseres Vertrauens, gebucht. Dann hieß es abwarten, die nötigen Qualifikationszeiten erreichen und uns so gut wie möglich vorzubereiten. Die größte Schwierigkeit bei diesem Lauf erschien mir das strikte Limit von 12 Stunden. Dieses Jahr wird Down-Hill gelaufen. Vom 650 m hoch gelegenen Pietermaritzburg geht es hinunter auf Meereshöhe nach Durban. Knappe 90 Kilometer und 5 Berge (The Big Five) sind zu überwinden. Das kann klappen - muss aber nicht.

Nun ist es also soweit. Der Flieger landet nach 12 Stunden Flug in Durban und der vom Veranstalter bereitgestellte Bus bringt uns zum Hotel. Wie immer, sind Werner Otto und Mathias Gerkum mit von der Partie, um ihren Gästen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Erster Programmpunkt am Nachmittag ist der Besuch der Marathonmesse. Strategisch günstig liegt unser Hotel „Balmoral“ knappe 10 Gehminuten vom Messegelände entfernt. Gleichzeitig aber direkt am traumhaften Strand des indischen Ozeans.

Die Läufermesse könnte genauso in Berlin oder Hamburg sein. Es gibt alles Mögliche oder unmögliche, was Läufer so brauchen. Werner steuert direkt auf die Registration Desks zu. Es gibt drei davon: Eine für die einheimischen Läufer, eine für den „Green Number Club“ und eine für die „Internationals“. Wobei „Internationals“ alle sind, die nicht aus Südafrika kommen. Wir stellen uns in die kurze Schlange, erhalten die Startnummern und lassen den Chip registrieren. Es gibt noch eine Startertasche und wir können es uns im abgetrennten Bereich gemütlich machen. Kaffee, Tee und Kekse sind bereitgestellt.

Die Freude ist groß, als sich Klaus Neumann zu uns gesellt. Seit 1993 hat er, bis auf eine Ausnahme, jedes Jahr den Lauf gefinisht und ist somit ein ausgemachter Experte. Als offizieller Botschafter des Laufs für Deutschland wird er morgen die Bustour für die Streckenbesichtigung leiten. Er erklärt die Bedeutung des „Green Number Clubs“: Es handelt sich hierbei um die Läufer, die den Lauf zehn oder mehr Male erfolgreich zu Ende gebracht haben und somit zu recht ein hohes Ansehen und die Bewunderung aller anderen genießen. Uli Tomaschewski, ebenfalls Teilnehmer unserer Reisegruppe, steht mit neun Finishs an der Schwelle des erlauchten Kreises. Damit dies auch für jeden erkennbar ist, erhält er eine hellgrüne Startnummer.

Der nächste Morgen beginnt früh. Die Busse für die Streckenbesichtigung fahren um 8 Uhr. Noch etwas verschlafen, lassen wir uns nach Pietermaritzburg kutschieren. Klaus erzählt unterwegs etwas zur Geschichte des Laufs. Vic Clapham, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, hatte bei der Offensive der alliierten Streitkräfte in Ostafrika 2700 km zu Fuß zurückgelegt und wollte mit dem Marathon seinen gefallenen Kameraden ein Denkmal setzen. Comrades bedeutet Kameraden. Der Lauf sollte die Strapazen widerspiegeln, die von den Soldaten während des Krieges zu erdulden waren.

Am 24. Mai 1921 (dem Empire Day) machten sich Läufer von Pietermaritzburg zum ersten Mal auf den Weg. Von den 34 Gestarteten erreichten 17 das Ziel. Der erste in 8:59; der letzte in 12:20. 1975, bei der 50. Austragung, wurden zum ersten Mal Schwarze und Frauen offiziell zum Rennen zugelassen. Doch bereits 1935 hatte Robert Mtshali als erster schwarzer Läufer die Strecke bewältigt. Seine Leistung und die aller anderen inoffiziellen schwarzen und weiblichen Starter vor 1975 wurden 2005 bei einer offiziellen Zeremonie des Veranstalters gewürdigt.

1988 erreichten mehr als 10.000 Läufer das Ziel. Nach dem Ende der Apartheid und der daraufhin erfolgten Aufhebung der sportlichen Sanktionen war der Comrades Marathon 1993 das erste Sportereignis Südafrikas mit internationaler Beteiligung. Neben Klaus Neumann, der mit einem Kollegen nach Südafrika kam, war als dritter Deutscher Charly Doll dabei, der dann sensationell gewann. Ein Jahr danach tat es ihm Alberto Salazar aus den USA gleich. 1995 errang die deutsche Läuferin Maria Bak den ersten von drei Siegen bei den Frauen. Und 1999 triumphierte Birgit Lennartz.

Die Veranstaltung wird seit langem in voller Länge live landesweit im Fernsehen übertragen. 2003 sahen mehr als 3,5 Millionen Zuschauer zumindest einen Teil des Rennens, mit den höchsten Einschaltquoten beim Einlauf der Sieger und kurz vor Zielschluss. Nach offiziellen Angaben sind in diesem Jahr über 19 000 Anmeldungen eingegangen. Davon knappe 1500 Internationals und immerhin 70 Deutsche.

In Pietermaritzburg ist ebenfalls eine kleine Marathonmesse aufgebaut. Wir besuchen das winzige Museum in dem Relikte aus vergangen Comradeszeiten ausgestellt sind. Baumwollshirts, lederne Laufschuhe dazu die Pokale und Medaillen erinnern an eine andere Zeit. Auf einer großen Tafel aus Mahagoni sind die Namen der Sieger verewigt. Auf einer weiteren die der Siegerinnen. Stark umlagert ist eine Nachbildung der Laufstrecke auf der die Neulinge das Streckenprofil betrachten können.

Zurück im Bus geht es dann auf die Strecke. Wir passieren das Rathaus. Vor dem imposanten Backsteinbau ist der Startbogen bereits aufgebaut. Die Gerüste sind massiv und das Logo des Comrades macht einen robusten Eindruck. Das heißt, er steht das ganze Jahr hier. Nur das Startbanner ist frisch aufgezogen worden. Klaus warnt vor dem Gedränge beim Start. Es kommt in der Dunkelheit oft zu Stürzen und das Rennen kann hier schon vorbei sein. Als besonders heimtückisch wird vor am Boden liegenden Plastiktüten gewarnt. Viele Läufer schützen sich damit vor der morgendlichen Kälte und entsorgen die Säcke dann nach dem Start. Schnell kann man sich mit den Beinen darin verfangen und stürzen.

Wir verlassen den Ort. Der Anstieg nach Polly Shorts, dem ersten der „Big Five“ scheint machbar. Es geht nun immer runter und hoch. Klaus warnt vor den kleinen „Katzenaugen“, die sich in der Mitte und am Rand der Straße befinden. Sie sind zwar nur wenige Millimeter hoch, aber berüchtigt als Stolperfalle. Außerdem ist die Straße immer wieder von Rillen durchzogen – glatter Asphalt sieht anders aus. Ein 7 km langer Anstieg nach „Umlaas road“ folgt. Hier ist mit 810 m der höchste Punkt der Strecke. Nur ein Wasserturm kennzeichnet diesen für uns wichtigen Ort. Wir sind bei km 18.

Wir unterbrechen unsere Fahrt. In der Ethembeni School for Handicapped Children werden wir bereits erwartet. Die Schüler, Lehrer und Betreuer sind seit jeher an der Strecke um die vorbeikommenden Läufer anzufeuern. Dies ist vor Jahren einem amerikanischen Sportler aufgefallen. Im Folgejahr sammelte er spontan Geld und spendete es der Schule. Seither hat die Aktion weite Kreise gezogen. Viele Läufer haben Sachspenden, wie Kleidung und Süßigkeiten dabei, um sie hier abzugeben. Der gesamte Etat der Schule wird mittlerweile durch den Lauf finanziert.

Von den Tänzen und Gesängen der Schüler sind alle begeistert und der Applaus nimmt kein Ende. Mit warmen Worten bedankt sich der Leiter der Schule. Als Andenken erhalten wir als symbolisches Geschenk eine Schraube. Sie soll uns während des Laufs, wenn wir verzweifelt sind, daran erinnern, dass wir uns ausdauernd wie eine Schraube aus dem Tief heraus winden können.

Ungefähr bei Marathondistanz liegt der Gipfel von „Inchanga“. Dahinter passiert man die Wall of Honour. Jeder Comrades-Finisher kann sich hier auf einem Stein verewigen lassen. Wir steigen kurz aus und Klaus zeigt uns seinen Stein. Ein paar hundert Meter zurück besichtigen wir Arthur’s Seat, eine Nische in der Böschung neben der Straße. Der fünfmalige Sieger Arthur Newton hatte hier auf seiner Trainingsstrecke seinen Pausenplatz. Einer Legende zufolge wird es Läufern, die hier während des Laufs eine Blume mit dem Gruß „Good morning Sir“ niederlegen, auf der zweiten Hälfte des Laufes gut ergehen.

Irgendwo hier muss Halbzeit sein. Es geht „Bothas Hill“ hinauf. Meine Konzentration läßt nach. Es geht ständig bergauf und bergab. Ungefähr bei km 55 in Hillcrest werden dann die Begleiter unserer Reisegruppe stehen und uns anfeuern. Die Straßen werden breiter. Dann liegt plötzlich die Skyline von Durban vor uns. Hier wird wohl die Autobahn für uns gesperrt werden. Die Bustour ist beendet. Zu Fuß geht es zum Sahara Stadion. Beeindruckt testen wir den Rasen des Zieleinlaufs, wo noch letzte Hand angelegt wird. Wir besichtigen den Zielbereich. Mit diesem letzten Eindruck und einer gehörigen Portion Respekt vor der zu bewältigenden Monsterstrecke werden wir entlassen.

Der Lauftag beginnt in aller Herrgotts Frühe. Um 2 Uhr Nachts gibt es Frühstück im Hotel und um 3 Uhr werden wir mit unserem Bus hinter dem Hotel abgeholt. Die Einheimischen haben es nicht so gut. An den Abfahrtstellen haben sich bereits lange Schlangen gebildet. Geduldig warten die Läufer, bis sie in die Busse können. Es herrscht reger Verkehr, denn die Laufstrecke ist bereits gesperrt, so dass es einige Umleitungen gibt.

In Pietermaritzburg ist es immer noch stockdunkel, als wir den Bus verlassen. Die wenigen Straßenlaternen tauchen die Szenerie in spärliches Licht. Wir laufen jetzt einfach in die Richtung, in die alle gehen. Nachdem die Startnummer kontrolliert wurde, können wir den Startbereich betreten. Wir suchen die Toiletten. Die erste Dixischlange ist unsere.

Dann suchen wir die Startblöcke. Plötzlich stehen wir vor Startblock A. Nun ist die Orientierung kein Problem mehr. Wir hatten vorher den Plan studiert. Bei Startblock C verlasse ich Norbert. Es wurde eindringlich darauf hingewiesen, dass um 5 Uhr 15 die Startblöcke geschlossen werden. Diejenigen, die dann erst kommen, müssen sich ganz hinten im letzten Startblock einordnen. Für mich ist das kein Problem, ich bin eh ganz hinten. An den Lastwagen für das Gepäck herrscht Gedränge. Ganz untypisch gibt es hier keine Schlangen. Jeder will seine Tasche so schnell wie möglich loswerden. Wir haben als „International“ lila farbene Gepäckanhänger. Sie werden dann aussortiert und später separat aufbewahrt.

Ich suche nochmal eine Toilette. In der langen Schlange geht nichts vorwärts. Erst kurz vor Start komme ich in meinen Block H. Hier sind schon alle aufgerückt. Von hinten schleiche ich durch die Menge etwas weiter nach vorne. Plötzlich ist es still und die Menge beginnt zu singen. Nkosi Sikelel’ iAfrika zu deutsch: „Gott segne Afrika“ ist die Nationalhymne von Südafrika. Die Emotionen in diesem Moment, inmitten dieses 18000 köpfigen Chores, sind nicht zu beschreiben. Lauter Jubel reißt mich aus meiner Andacht. Shosholoza wird angestimmt. Der Rhythmus ist typisch afrikanisch und der Text relativ einfach. Das Zulu-Wort shosholoza bedeutet etwa „Mutig nach vorn schauen“ oder „Wir greifen an“. Nicht nur ich habe feuchte Augen. Der tosende Jubel wird von dem grandiosen Song von Vagelis „Chariots of Fire“ unterbrochen. Pünktlich um 5 Uhr 30 ertönt der legendäre zweimalige Hahnenschrei, direkt gefolgt vom Startschuss und unter donnerndem Applaus der vielen Zuschauer und lauten Anfeuerungsrufen des Moderators geht es los.

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