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Laufberichte

Atemnot am Chicago River

07.10.12

Triumphiales äthiopisches Ergebnis, Teilnehmerrekord – und Medaillenmangel!

Mit Chicago werden verbreitet verschiedene Pauschalurteile verbunden, wie z. B. Megacity mit allen damit verbundenen Nachteilen (Lärm, Hektik, Schmutz etc.), architektonische Musterstadt für Hochhäuser, aber auch ehemalige Hochburg der Kriminalität mit Al Capone als dessen bekanntesten Vertreter. Aus läuferischer Sicht ist zumindest den City-Läufern der Chicago Marathon als einer der fünf World Marathon Majors (neben Berlin, Boston, London und New York City) bekannt. Nach New York City (NYC) ist Chicago – Beurteilungskriterium seien die Finisherzahlen – der zweitgrößte Marathonlauf der USA.

Die Attraktivität des Laufs hat mit der Zeit  kontinuierlich zugenommen.  Hatte der Marathonlauf 1977 noch 2.128, so wurde beim 33. Lauf an dem besonderen Datum 10.10.10 mit 36.088 Finisher der bisherige Teilnehmerrekord erreicht. Dieser konnte am 07.10.2012 mit 37.455 Finishern deutlich getoppt werden. Wie attraktiv der Lauf ist, zeigt sich auch daran, dass die Maximalteilnehmerzahl von 45.000 LäuferInnen (seit 2007 auf diese Zahl begrenzt) bereits sechs Tage nach der Anmeldeeröffnung am 01.02.2012 erreicht wurde. Bemerkenswert an dieser Angabe ist, dass vor zehn Jahren, also 2003, erst nach 35 Wochen die maximale Anmelderzahl erreicht werden konnte.

Für den Lauf ist keine Qualifikationszeit, wie z. B. beim Boston-Marathon, nachzuweisen. Die „Betreuung“ der registrierten Teilnehmer erfolgt in vorbildlicher Weise per email bis hin zur Übersendung der ausführlichen und sehr informativen Veranstaltungsunterlagen. Letztere werden auch postalisch zugesendet und berechtigen neben einem Lichtbildausweis zur Abholung der Startnummer, des persönlichen Chips und des Finisher-T-Shirts.

Die Startgebühr für Ausländer betrug 2012 175,00 USD. Die Ausgabe erfolgte am Freitag und Samstag vor dem Lauf im McCormickCenter wenige Kilometer von Chicago-Zentrum entfernt im Rahmen der Marathon-Messe. 175 Aussteller stimmten mit einem reichhaltigen Angebot die Teilnehmer schon auf das bevorstehende Ereignis ein. Nike und Volkswagen hatten 2012 die beiden mit Abstand größten Ausstellungsflächen belegt. Während alle größeren Laufbekleidungs- und -schuhersteller mit Ständen vertreten waren, hatten die beiden deutschstämmigen, internationalen Sportartikelhersteller Adidas und Puma keine Stände. Die Begründung hierfür war für mich nicht ersichtlich.

Chicago als nach New York City und Los Angeles drittgrößte Stadt der USA mit 2,7 Mio. Einwohnern im Stadt- und 9,7 Mio. Einwohnern im Einzugsbereich, hat, bedingt durch die Lage direkt am riesigen Michigansee, ein sehr wechselhaftes Küstenklima. So wurde der Marathon bereits bei wenigen Grad über 0 Grad Celsius gelaufen, musste aber auch schon bei Temperaturen über 30 Grad Celsius abgebrochen werden. Dieses Jahr herrschten bei trockenem, sonnigen und nahezu windstillem Wetter bei Temperaturen zwischen  vier und zehn Grad Celsius ideale äußere Marathonbedingungen. Verbunden mit der recht langen Öffnungszeit für die Rennstrecke von 6,5 Stunden erreichten 97,2% der 38.535 Starter das Ziel. Übrigens entspricht diese Starter-Finisher-Quote exakt dem des Berlin-Marathons 2012. Dass aber möglicherweise auch der Veranstalter von dieser hohen Finisherquote überrascht wurde, könnte dadurch zum Ausdruck kommen, dass die letzten 1.300 Finisher keine Medaille mehr bekamen. Diese werden nun nachgesendet.

Die Strecke ist ein typischer Stadtkurs. Start und Ziel befinden sich auf dem Columbus Drive, der den Grant Park der Länge nach durchschneidet. Östlich vom Park befindet sich der Michigansee, die Skyline der gegenüberliegenden Wolkenkratzer bildet die beeindruckende  Kulisse für den Start und Zieleinlauf. Der Chicago-Marathon ist insofern, im Gegensatz zu den Läufen in Boston und NYC, ein klassischer Rundkurs. 2012 wurde zum ersten Mal in  Blöcken gestartet. Die EliteläuferInnen, Rollstuhlfahrer und 20.000 schnelleren LäuferInnen, eingeteilt nach den Selbstauskünften über die bisherigen Marathon-Resultate, starteten um 07:30 Uhr, der zweite Block eine halbe Stunde später.

Der spektakuläre Teil der Strecke liegt direkt auf den ersten Kilometern. Es geht sofort in die Schluchten zwischen die Hochhäuser! Chicago gilt als die Hochburg architektonischer Höchstleistungen individueller Wolkenkratzerbauten. Auf den ersten fünf Kilometern wird der Chicago River drei Mal gekreuzt. Gut, dass man zu diesem Zeitpunkt noch genug Luft hat, denn der Anblick hier verschlägt einem wirklich den Atem! Dicht an dicht stehen ganz unterschiedlich alte und hypermoderne Hochhäuser, durchschnitten durch den Chicago River. Der River selbst wird in kurzen Abständen durch zahlreiche gusseiserne Brücken überwunden, die für Schiffe mit Masten geöffnet werden können. Um den Läufern die Brückenüberquerung so komfortabel  wie möglich zu gestalten, sind die Brücken mit Teppichen belegt.

Nach dem Verlassen des inneren Viertels von Chicago führt der LaSalle Drive geradewegs Richtung Norden in den Lincoln Park. Was den New Yorkern ihr Central Park, das ist den Chicagoern ihr Lincoln Park! Der Park ist am Wochenende die zentrale Freizeitzone von Chicago und die Einwohner genießen die Oase  mit Decken und Picknickkörben. Es existieren extra Wege für Jogger, Radler und Spaziergänger. Die Laufstrecke zieht sich durch den ganzen Park und führt direkt am 1868 eröffneten Lincoln Zoo entlang. Die Sinneseindrücke sind überwältigend: Kurz vorher lief man noch durch das imposanteste und vielfältigste Hochhausensemble der Welt, und jetzt befindet man sich in einem wunderschönen Park neben einem der ältesten Zoos der USA!

Nach dem nördlichsten Wendepunkt in der Addison Street geht es zügig wieder Richtung Süden und damit Richtung Innenstadt. Kurz vor der Halbmarathonmarke tauchen die LäuferInnen wieder in die Hochhausschluchten ein und kreuzen zum vierten Mal den Chicago River auf der North Orleans Street zwischen den Hochhäusern der Chicago Sun-Times und dem Merchandise Mart. Die Chicago Sun-Times ist – wie die New York Times beim NYC-Marathon – eine der Sponsoren des Chicago-Marathons und hatte am Tag nach dem Lauf eine 96seitige Beilage mit Berichten zum Lauf und den vollständigen Namen, dem Herkunftsland und –ort, der Nettozeit und der Platzierung aller Finisher (Preis: 75 US-Cent!).

Die zahlreichen Überquerungen des Chicago-Rivers über die alten gusseisernen Brücken, versehen mit zahlreichen Verzierungen und Ornamenten, erinnerten mich stark an Venedig, so abwegig dies auch klingen mag. Der Unterschied liegt darin, dass Chicago in diesem Bereich der City die Maximalversion von Venedig ist!

Ziemlich genau bei der Halbmarathonmarke knickt die Strecke auf dem schachbrettartigen Streckenverlauf Richtung Westen ab. Es folgen die sehr publikumsintensiven  - betreffend Zuschauerzuspruch und Lärmpegel – Stadtteile Greektown und Little Italy. Insgesamt führt die Laufstrecke durch 29 Stadtteile Es gibt keinen Streckenabschnitt ohne Zuschauer. Oftmals stehen diese in Fünferreihen (und mehr) und feuern die LäuferInnen mehr als frenetisch an: Gänsehautfeeling pur! Die Anzahl und inhaltliche Vielfalt von Motivationsschildern, die von den Zuschauern hochgehalten werden, faszinierten mich besonders. Besonders gut gefielen mir die folgenden drei: „Joe, erinnere Dich:  links, rechts, links, rechts!“,  „Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem Du nicht mehr das machen kannst, was Du gerade machst. Deshalb genieße das, was Du gerade machst!“ und „Keiner hat gesagt, dass es einfach werden wird!“

Die Strecke ist durchgängig in Meilen ausgeschildert. Bei allen Fünf-Kilometer-Marken und bei der Halbmarathonmarke werden Zwischenzeiten erfasst, elektronisch angezeigt und später auch im Internet für jede(n)  LäuferIn ausgewiesen. Die Meileneinteilung der Strecke bot mir als Kilometer-Läufer psychologische Vorteile. In Streckenabschnitten, wo  es „gut läuft“, rauschen die Meilen nur so dahin und 26,2 sind ja auch weniger als 42,2 oder?

Die letzten Meilen, die vom südlichen Wendepunkt an der 35. Straße zurück in die Innenstadt führen, dürften für alle LäuferInnen die herausforderndsten sein. Der Körper ist ziemlich erschöpft und der Wille wird durch eine im Vergleich zu den anderen Streckenabschnitten nicht so attraktiven Umgebung wenig aufgebaut bzw.  motiviert. Und dann heißt es, drei Meilen nur geradeaus laufen! Kurz vor dem Ziel ist auf der Roosevelt Road noch eine kleine Steigung, aber die Hoffnung auf das nahe Ziel und die Massen an anfeuernden Zuschauern verleihen Flügel!

An der Laufstrecke gibt es alle zwei Meilen Gatorade und Wasser. Bei Meile 17,5 gibt es verschiedene Powergels und ab Meile 20 werden vier Mal Bananen  und sonstige Früchte den LäuferInnen angeboten. Im Ziel erhalten alle LäuferInnen – in dieser Reihenfolge – Warmhaltefolien, Medaille, Wasser, Bananen und einen Beutel mit zahlreichen Energiesnacks. Mit der Startnummer erhielten auch alle LäuferInnen einen Coupon für ein Freibier im Zielbereich: Alles in Allem eine perfekte Strecken- und Zielverpflegung!

Die Laufstrecke ist in der ersten Hälfte attraktiver als in der Zweiten. Insofern unterscheidet sie sich von der Strecke des NYC-Marathons, bei der ich die Attraktivitätsverhältnisse genau umgekehrt sehe. Mit einer Teilnehmerquote von Ausländern zu US-Amerikanern von unter 20% ist dieser Marathon deutlich US-amerikanischer geprägt als z. B. der NYC-Marathon. Auch fällt die absolut, aber auch insbesondere im Vergleich zu europäischen Marathons hohe Frauenquote auf. Von den 37.437 Personen, die den Marathon beendeten, waren 16.765 Frauen (Quote 45%) .

Aus Sicht der SpitzenläuferInnen und hier insbesondere der aus Äthiopien war dieser Chicago-Marathon exceptionell.  Der bisherige Streckenrekord des Kenianers Moses Mosop aus dem Jahr 2011  wurde mit 02:04:38 vom Äthiopier Tsegaye Kebede um fast eine Minute unterboten. Die Zeit des Gewinners  ist genau eine Minute langsamer als die Weltrekordzeit. Auch die zweit- und drittplazierten Männer aus Äthiopien unterboten den bisherigen Streckenrekord. Äthiopische Läufer, die bislang nicht unter den schnellsten Läufern in Chicago vertreten waren, übernehmen jetzt die ersten drei Plätze! Dass auch eine Äthiopierin bei den Frauen gewann, steigert noch das sensationelle Ergebnis aus äthiopischer Sicht. Hierbei reichte aber die Endzeit der Gewinnerin nicht, um sich in die Liste der bisher zehn besten Läuferinnen aller Zeiten in Chicago einzutragen. Diese wird weiterhin von Paula Radcliffe mit 02:17:18 aus dem  Jahre 2002 gehalten.

Mein Fazit: Ein hervorragend organisierter Citylauf auf Weltstadtniveau mit höchst attraktiver Streckenführung und begeisternden und begeisterten Zuschauern, der leider in Europa (noch?) nicht den Bekanntheitsgrad wie die Läufe in NYC oder Boston hat, den Zuspruch wie diese aber in jeder Beziehung verdient (einzig das unberechenbare Wetter verbleibt als Risikofaktor).

Männer:
1. Tsegaya Kebede (ETH) 02:04:38
2. Feyisa Lilesa (ETH) 02:04:52
3. Tilahun Regassa (ETH) 02:95:28
Frauen:
1. Atsede Baysa (ETH) 02:22:03
2. Rita Jeptoo (KEN) 02:22:04
3. Lucy Kabuu (KEN) 02:22:41

37.437 Finsiher

 


 
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