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Laufberichte

Warum ich 100 Kilometer laufe

 

 

Der Regen lässt allmählich nach. Nun folgt ein Wäldchen, in dem es allerdings stockdunkel ist. Ich hatte vorhin beim Auspacken meines Regenschutzes die Stirnlampe in den Rucksack gepackt. Nun bin ich froh, dass jeder zweite Läufer eine Lampe dabei hat. In der Ferne kann ich die Lichter einer Straße erkennen. Das ist die Straße nach Lyss. Hier komme ich wieder gut voran.

In Lyss warten die Radbegleiter auf ihre Läufer. Viele sind nicht zu erkennen. Bin ich so weit hinten im Feld oder haben sich die Radler unter die Dächer verkrochen? Nun, mich tangiert das nicht. Es geht um eine scharfe Linkskurve und der Ort liegt hinter mir. Bei km 25 geht es bergauf.

An der nächsten VP gibt es endlich Boullion (Fleischbrühe). Das ist genau das Richtige für mich. Auch ein Stückchen Brot gönne ich mir. Die nächsten Kilometer sind ohne besondere Vorkommnisse. Ich habe eine Flasche mit Kaffee dabei, der mir über die größte Müdigkeit hinweghilft. Um mich herum erkenne ich immer dieselben Läufer, mal vor, mal hinter mir. Meinen Regenumhang habe ich vorne verknotet, so dass Luft an meine Kleidung kommt, ich aber vor kühler Zugluft geschützt bin. Von Regen ist jetzt keine Spur mehr. Leider sind auch kaum mehr Schaulustige an der Strecke. Die ganzen Partys wurden wohl nach drinnen verlegt.

Ein paar Kilometer weiter liegt eine Kontrollstelle. Hier bekommen die Läufer einen Stempel auf ihre Startnummer. Die Kontrolleure sind gut gelaunt und machen Späße. Das hebt auch bei mir die Stimmung. Bei km 39 erreichen wir Oberamsern. Hier ist auch die Wechselstelle der Staffeln. Hinter der VP stehen Zelte für die Läufer, die ihre Etappe beendet haben. Nebenan ist ein kleines Festzelt mit Bewirtung. Ich frage nach Kaffee und bekomme auch welchen. Das tut gut.

Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, alle Streckenposten, die Helfer an den Verpflegungsstellen und natürlich auch die Zuschauer mit einem fröhlichen „guten Morgen“ zu begrüßen. Fast immer kommt ein netter Gruß zurück. Das macht mir Spaß und sicher auch meinen Gegenübern gute Laune.

Hinter Etzelkofen geht es steil bergab. Unten in der Kurve stehen junge Leute und haben alte deutsche Partyhits aufgelegt. Schon von weitem kann ich sie hören. Sie stehen in einer Reihe und machen für jeden Läufer eine LaOla-Welle. Wir sind hocherfreut über diese nette Abwechslung. Dann geht es wieder bergauf und ich habe noch lange die fetzigen Rhythmen im Ohr.

In Buechhof bei km 45 steht eine VP und keine 3 km weiter in Jengenstorf, dem südlichsten Punkt unserer Strecke, kommt schon die Nächste. Dahinter sichert ein Streckenposten die Straße. Schon von weitem ruft er, es gehe links die Treppe hinauf. Ein kurzer Blick auf die Treppe sagt mir, dass das wohl ein Witz sein muss. Ich gebe eine entsprechende Antwort und der Helfer erklärt nun: „zwanzig Stufen hinauf und zwanzig Stufen hinunter gibt doch wieder die gleiche Höhe.“ Dass sich jemand solch einen Scherz mit mir erlaubt sagt mir, dass ich wohl nicht so fertig aussehe wie ich mich fühle, das beruhigt mich einigermaßen.

 

 

Ein anderer Streckenposten ruft uns zu: „In 2 km ist Halbzeit“. Leider weiß ich vom letzten Jahr noch, dass der nun folgende Streckenabschnitt ziemlich zäh ist. Meine Erinnerung trügt mich nicht. Es wird bereits langsam hell, aber das km 50 Schild will nicht kommen. Nach 7 Stunden und 4 Minuten passiere ich endlich das ersehnte Schild.

Es geht noch ein Stück über die Felder bis zum beschaulichen Ort Kernenried. In der Ferne ist bereits Kichberg auszumachen. Kurzweilig geht es durch blühende Wiesenlandschaft, über eine Straße, zum 55 km Schild. Der Weg führt ein Stückchen an der Emme entlang, dann über eine Brücke und an den Sportanlagen richtungsmäßig wieder zurück. An jedem Abzweig stehen Helfer und passen auf, dass niemand falsch läuft. Es ist zwar hell und die Pfeile auf der Straße gut zu erkennen, wir sind jedoch schon recht müde und nicht mehr so konzentriert.

In Kirchberg haben die 56 km Ultraläufer ihr Ziel erreicht. An der VP gibt es Kuchen, kleine Linzer Törtchen mit Marmelade. Lecker. Ich stärke mich ausgiebig. Hinter Kirchberg erfolgt die Trennung von Läufer und Radler. Die Radbegleiter dürfen nicht auf den trailigen Emmendamm und treffen erst wieder nach 10 Kilometern auf die Laufstrecke.

Zunächst werden wir aber unter der A1 und durch ein Industriegebiet geleitet, bis links der Wald auftaucht. Wir laufen auf einem ebenen, noch gut zu laufenden Feldweg. In der Ferne kann ich im morgendlichen Dunst die Erhebungen des Schweizer Jura erkennen. Die Wolken hängen tief. Dann geht es in den Wald. Links fließt die Emme, ein 80 km langer Fluss, Namensgeber des Emmentals, der unterhalb von Solothurn in die Aare fließt. Bereits im 19. Jahrhundert wurde, wegen der immer wiederkehrenden verheerenden Hochwasser, die Emme kanalisiert und das umliegende Land mit Dämmen geschützt.

Auf einem schnuckeligen Wegchen geht es zwischen hohen Sträuchern hindurch. Der Spitzname des Weges „Ho-Chi-Minh-Pfad“, der auf einen stärkeren Bewuchs schließen lässt, ist zumindest heute nicht gerechtfertigt. Rechts überqueren wir eine Straße. Dann geht es auf den Damm. Links liegen der Wald und rechts weite Felder. Das Gras ist von vielen Laufschuhen niedergetrampelt, und der Untergrund matschig. Es hat wohl viel geregnet. Vor mir kann ich auf der langen Geraden einige Läufer erkennen. Nun geht es links wieder in den Wald hinein. Hier wird der Weg sehr eng und steinig. Dazwischen folgen Passagen die aus reinem Matsch bestehen. Das Laufen ist unangenehm und überholen mühselig. Nicht, dass ich so viel überholen müsste, aber es kommen eben auch Läufer von hinten, die ich nicht behindern möchte. Mit etwas Rücksicht ist das aber alles machbar.

Mir fallen jetzt die Taschenlampen auf, die alle hundert Meter auf Stöcken befestigt sind. Sie dienen zur Beleuchtung des Weges bei Nacht, denn zwischen 2 Uhr und 3 Uhr waren hier schon die ersten Läufer unterwegs. Nach dem km 60 Schild geht es unter einer Autobrücke hindurch. Ein Schild kündigt die nächste VP an, die hinter der Kurve geschützt unter einer Brücke liegt. Das ist ja eine perfekte Stelle für das reichhaltige Angebot. Eine meterbreite Pfütze lässt noch einen kleinen Streifen, wo man mit etwas Geschick entlang balancieren kann. Hier ist ein kleines Festzelt mit Bierbänken aufgebaut. Jetzt ist das Gelände verwaist, aber früher war bestimmt einiges los.

Als nächstes geht es auf einem schmalen Asphaltweg direkt an einem kleinen Mäuerchen entlang. Wieder kann ich vor mir eine Läuferschlange erkennen. Eine Schweizer Läuferin kommt von hinten und spricht mich an. Sie ist bereits zum 9. Mal dabei und wird bestimmt im nächsten Jahr wiederkommen. Weil sie deutlich schneller gehen kann als ich, lässt sie mich hinter sich.

Ich komme noch an zwei Kraftwerken vorbei und dann spuckt mich der Wald auf einen Parkplatz wieder aus. Hier warten auch schon die Fahrradbegleiter. Es sind nun 67 km geschafft und der Weg ist breit und gut zu belaufen. Die Helfer der nächsten VP vom Skiklub Brügg haben ihre Tische besonders liebevoll gedeckt und sogar mit Blumen geschmückt. Man möchte gerne länger verweilen und den netten Zuspruch genießen. Aber wir müssen weiter. Eine Brücke bringt uns über die Emmer, dann erreichen wir Biberist; der nördlichste Punkt der Strecke ist erreicht. Hier am Ortsrand scheinen noch alle zu schlafen. Nur ein Mann mit Hund ist bereits unterwegs. Er wünscht mir einen guten Lauf. Danke, das ist nett. Ein kleiner Schlenker und wir verlassen das Örtchen auch schon wieder.

 

 

Auf einem Radweg geht es nun über grüne Felder entlang des Dorfbaches am km 70 Schild vorbei. Vor Lohn-Ammannsegg kommen wir an einem großen Schrottplatz vorbei. Beim schönen alten Bahnhofsgebäude sichern Streckenposten unseren Überweg über eine größere Straße. Es geht nun ein Stück an der Straße entlang, leicht bergauf. Lüterkofen durchqueren wir in ganzer Länge. Dann hört der Gehweg auf und wir landen auf der Straße. Hier heißt es eng am Straßenrand laufen. Die Autos nehmen größtenteils Rücksicht und vermindern ihre Geschwindigkeit, wenn sie einen Läufer passieren. Wobei hier alle gehen, denn die Straße führt bergauf.

Auf halber Höhe zweigt eine kleinere Straße nach Bibern ab. An der VP bei km 73,5 gibt es Kaffee. Ich genehmige mir einen Becher und greife mir den letzten freien Stuhl. Eine kleine Pause wird mir nicht schaden. Ich weiß schon, was jetzt kommen wird. Eine lange gerade Straße führt gleichmäßig bergauf. Aber das ist gar nicht so schlimm, die Straße ist gesperrt und bietet eine schöne Aussicht auf Wiesen, Hügel und Wald. Vor mir kann ich bunte Laufshirts auf dem nächsten steileren Anstieg erkennen.

Die VP in Bibern ist wieder vorbildlich ausgestattet. Hier ist der letzte Staffelwechsel, aber die Staffelläufer scheinen alle bereits durch zu sein. Dann geht es richtig bergauf. Es ist so steil, dass ich selbst im Gehen kleine Schritte mache. Ich weiß, dass es hinten wieder bergab geht; das motiviert mich.

Ein letzter Blick zurück, dann umfängt mich der Wald. Etwas wellig geht es weiter. Jetzt kann ich das Gefälle vor mir sehen. Ganz unten kann ich die Aare bereits erkennen. Dann fängt es ohne Vorwarnung an zu regnen. Ein Wolkenbruch geht auf mich nieder. Ich kann doch jetzt nicht anhalten! Wieder bin ich binnen weniger Minuten völlig durchnässt. Schon sehe ich Arch idyllisch unter mir. Unter anderen Bedingungen hätte ich das romantische Bild, mit dem Fleckvieh im Vordergrund, besser genießen können. Im Moment heißt es aber so schnell wie möglich weiter. Auch die Streckenposten, die die Straße sichern und uns einen gefahrlosen Überweg sichern, stehen im Regen. Es geht immer weiter bergab. Dann sehe ich endlich das rettende VP Schild und schon bin ich im Zelt verschwunden.

Aber auch andere hatten bereits diesen Gedanken. Vor allem am Eingang des großen Festzeltes ist es brechend voll. Ich frage, ob ich mich auch von der Rückseite der VP bedienen darf. Das geht natürlich. Ich lasse mich auf eine der Bierbänke fallen und überdenke meine Lage. Abwarten, bis der Schauer vorbei ist? Wer weiß, wie lange das dauert. Ich fummle also erneut meinen Plastikumhang aus dem Rucksack. Leicht angewidert von der nassen Pracht von oben, mache ich mich wieder auf den Weg, begleitet von vielen guten Wünschen der Helfer.

Es geht nun noch ein Stückchen durch den Ort, bis wir das Ufer der Aare erreichen. Ein Schild zeigt nach links zunächst unter den Autobahnzubringer hindurch und dann am Fluss entlang. Es regnet in Strömen und der Weg besteht nur noch aus großen Pfützen. An manchen Stellen ist er komplett überschwemmt. Viele Läufer versuchen, außen herum zu laufen, aber der Grassaum hat sich ebenfalls in Sumpf verwandelt. Ich spare meine Kräfte und laufe einfach mitten hindurch. So wie es aussieht, werde ich sowieso keine trockenen Füße behalten. Km 85, noch 15 km zu laufen, wie schön!

 

 

Die Radler versuchen Rücksicht zu nehmen und den Läufern den besten Weg zu überlassen, Danke. Obwohl ich wirklich langsam unterwegs bin, kann ich ständig andere überholen. Es sind mittlerweile viele Geher unterwegs. Die Gegend ist schön. Ich weiß noch, wie ich hier letztes Jahr vor Hitze fast eingegangen bin. Da geht es mir heute deutlich besser. Trotzdem bin ich froh, als endlich die ersten Häuser von Büren in Sicht kommen. Schöne Wohnlage hier, alle Achtung! Jetzt kommt auch die alte überdachte Holzbrücke von Büren in Sicht und zur VP direkt an der Uferpromenade ist es nicht mehr weit. Heute ist hier wenig los, zumindest der Regen hat aufgehört.

Wir verlassen Büren auf die Straße nach Biel. Hier wären es noch 11 km. Helfer weisen uns jedoch über eine Brücke und es geht auf den Radweg direkt am Nidau-Büren-Kanal entlang. Die Alte Aare macht hier in einer großen Schleife ein weitgehend naturbelassenes Gebiet. Über das km 90 Schild bin ich sehr glücklich.

Vor Scheuren kommt die nächste VP. Die Mitarbeiter der Samariter heißen uns herzlich willkommen und versuchen uns neu zu motivieren. Ich stärke mich nochmals mit Linzer Törtchen. Es fängt schon wieder an zu regnen. Das nervt jetzt aber. Kurz hinter km 95 liegt die letzte VP in Brügg. Trotz des Regens sind die Helfer gut gelaunt. Was sollen sie auch anders machen? Die Anzeichen einer nahen Großstadt mehren sich. Juhuh, jeder Kilometer wird nun angezeigt. Km 96 und 97 sind relativ schnell geschafft. Dann wird es wieder zäh, dafür hört der Regen auf. Wir verlassen das Flussgebiet und müssen über eine Brücke, das ist hoffentlich die letzte Steigung. Unten kommen wir beim km 98 Schild vorbei. Die Streckenposten an den Abzweigen klatschen, das motiviert ein letztes Mal. Es geht im Zickzack durch die Stadt.

Km 99 ist direkt am Bahngleis. Weil hier scheinbar viele Läufer ein Foto vom Kilometerschild machen, bietet eine Anwohnerin an, das zu übernehmen. Mir dauert das zu lange, ich will nur noch ins Ziel. Aber von der Innenstadt ist bisher nichts zu sehen. Es geht bergab und unten scharf rechts. Ein Streckenposten muntert mich auf. Vom Ziel keine Spur. Es folgt die letzte Kurve und da müsste es eigentlich sein. Ich kann den Sprecher deutlich hören. Auch einige Zuschauer feuern mich an. Nur das Ziel ist immer noch nicht in Sicht. Also noch eine Kurve und dann ist es tatsächlich geschafft. Ich werde angesagt und bekomme meine Medaille.

Helfer lotsen mich in ein kleines Zelt, wo es Sitzgelegenheiten, diverse Getränke sowie Kleinigkeiten zu Essen gibt. Ein Läufer fragt nach Erdinger, er wird auf das Festzelt nebenan verwiesen. Wir haben kein Geld dabei und lassen das deshalb. Da Norbert erwartungsgemäß früher im Ziel war, hatten wir abgesprochen, dass er sich im Auto ausruht, bis ich komme. Gemeinsam gehen wir jetzt zur Sporthalle Esplanade. Hier gibt es Duschen (die vor Stunden bei Norbert schon kalt waren), Massagen und das hart erarbeitete Finisher-Shirt.

 

 

Warum muss ein Mensch 100 km zu Fuß laufen? Warum auch noch bei Nacht und Regen? Und warum gleich mehrere Male, wie die große Zahl der Wiederholungstäter aufzeigt?

-    Geld kann es nicht sein. Es gibt eine Prämie in Höhe von 500 Franken für den schnellsten Läufer und die schnellste Läuferin in Aarbert. Ferner werden für einen neuen 100 km Streckenrekord 1000 Franken ausbezahlt. Das wars dann aber.

-    Ruhm und Ehre? Gewonnen hat bei den Männern Florian Vieux  und bei den Frauen Sandra Roulet Romy. Mal ehrlich, wen außer ein paar eingefleischten Ultrafans interessiert das?

Was ist es dann? Nach dem letzten Jahr hatte ich geschworen: Nie wieder. Auch dieses Mal ist ganz klar: Nie wieder.

Aber vielleicht überlege ich es mir noch einmal. War es nicht doch ganz schön? Ist es nicht ein perfektes Training, für noch längere Distanzen? Könnte es sein, dass ich vielleicht nächstes Jahr wieder komme?

Es gibt für mich während des Laufs einen Punkt, an dem ich  merke: Ich schaffe das.  Und das ist auch die Antwort auf die Frage: Warum muss ein Mensch 100 km laufen?  Er kann es!

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Informationen: Bieler Lauftage
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