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Laufberichte

Irgendwann ist jetzt

12.06.10

Beim Passieren der 50km-Tafel hüpft die Anzeige meiner Uhr auf 3.00 Uhr. Bis jetzt konnte ich ein gleichmäßiges Tempo beibehalten und ich nehme mir vor, mindestens bis nach Kirchberg in diesem Schnitt zu bleiben. Länger werde ich das nicht durchhalten, so viel bin ich mir sicher. Wie stark ich abfallen werde, wird sich dann zeigen.

In Kirchberg ist beim Verpflegungsposten und der Staffelwechselzone einiges los.  Beim Getränkestand stehe ich plötzlich neben Anton, der mit den offiziellen Getränken den Boden legt für das Bier, welches er in der Festwirtschaft nebenan bei einem Zuschauer schnorrt. Kaum ist er wieder weg, treffe ich unseren Hoffotografen und halte einen Schwatz mit ihm. Ich will mir nicht mit übereiltem Weiterhasten kaputt machen, was ich mir bis hierher erarbeitet habe. Es dauert schließlich nur noch eine Spur mehr als einen Marathon.

Obwohl wir die Autobahn unterqueren, ist Kirchberg am Hunderter ein Außenposten der Zivilisation. Der Anschluss an das Autobahnnetz nützt nichts. Für uns steht etwas anderes auf dem Plan. Bevor es in die Wildnis geht, müssen sich die begleiteten Läufer hier von ihren Coaches verabschieden. 

Vor dem Weiterlaufen klaube ich noch die kleine Lampe aus dem Rucksack, denn die werde ich brauchen. Kaum biege ich auf den Emmendamm ein, ist es um mich herum zappenduster. Ohne Licht möchte ich nicht über die Steine und Wurzeln tappen. Aber abgesehen davon, dass ich mir meine geliebten Trailschuhe an die Füße wünsche, laufe ich zu Hochform auf. Zwar spüre ich die sich entwickelnde Blase immer mehr, doch der Weg beansprucht meine volle Aufmerksamkeit. In dieser Phase bin ich ganz aufs Laufen konzentriert und ziehe an vielen vorbei, die ich vor meiner längeren Pause in Kirchberg schon einmal überholt habe. Dieser Abschnitt bestätigt mir, dass mein wahres Ding die Läufe abseits des Asphalts sind.

Die Kilometer fliegen nur so an mir vorbei und trotzdem bin ich wach und aufmerksam genug, um zwischen den beiden folgenden Verpflegungsstationen einen verloren gegangenen Chip auf dem Weg auszumachen. Ich halte an, kehre um, und heb ihn auf. Mit tut der Kerl leid, der im Ziel feststellen muss, dass sein Chip nicht mehr an der Startnummer hängt. Nachdem ich schon in St. Wendel zwei Chips auf der Straße habe liegen sehen, habe ich langsam Zweifel, ob die Zeitnehmerfirma mit dem Wechsel auf diese Art von Chip nicht gleich die Garantie für Frust mitliefert. Denn ist die Startnummer einmal zünftig aufgeweicht, hält die Heftklammer des Chipbands nicht mehr. Da ich schwitze wie ein Bär und die Startnummer in der Zwischenzeit die Festigkeit eines triefenden Waschlappens besitzt, führe ich von nun an regelmäßig einen Kontrollgriff an den Ort aus, wo mein Chip sitzen sollte.

Bei Kilometer 65 säumt ein Lichtermeer den Weg – die Coaches warten mit ihren Fahrrädern auf ihre Schützlinge. Zwei Kilometer später gebe ich am Verpflegungsposten den gefundenen Chip ab, erfrische mich innerlich und äußerlich und lasse dabei wieder viele Läufer an mir vorbeiziehen.
Ich überquere auf der schmalen Brücke die Emme und laufe weiter in den Tag, der nun die Nacht vollständig verdrängt hat. Das relative Hoch von vorhin ist daran zu verfliegen, denn in meinem Gedärme rumort es. „Nein, bitte nicht“, murmle ich und halte auf beiden Seiten Ausschau, wo ich in die Büsche flüchten könnte. Dummerweise sind ausgerechnet hier links und rechts lauter gepflegte Vorgärten… Mit einem Wechsel vom Laufen zum Gehen verschwinden die Beschwerden zum Glück fast so schnell wie sie aufgetaucht sind.

Die Morgenstimmung mit den frischen Liedern der Vögel erinnert mich an einen meiner ersten Ferienjobs in meiner Schulzeit. Jeden Morgen begann ich um 4.00 Uhr in der Früh Zeitungen auszutragen. Ich arbeitete gewissermaßen im Akkord, denn ich machte gleich zwei Touren, für welche je knapp drei Stunden berechnet waren. Bis zum Ende meines Einsatzes hatte ich die letzte Zeitung nach weniger als vier Stunden im Kasten, ging nach Hause und legte mich bis zum Schwimmbadbesuch nach dem Mittagessen aufs Ohr. Ob ich mir damals im hügeligen Villenviertel auf den unzähligen Stufen die Grundkondition für meine läuferischen Eskapaden im fortgeschrittenen Alter geholt habe?

Nach dem siebzigsten Kilometer beginnen mit dem gleichmäßigen Bewegungsablauf auf dem Asphalt die Fußsohlen mit ihren Blasen zu brennen. Es fühlt sich an, als würde ich mich im Feuerlaufen versuchen oder auf Lava tanzen. Dafür fehlt mir das Feuer im Hirn. Das geteerte Band, auf welchem sich die müden Beine nach Lüterkofen kämpfen, zieht sich dahin. Die Zuschauer, die zu dieser frühen Stunde an der Strecke stehen sind schon eine Aufmunterung, zumal sich darunter – im Gegensatz zu gewissen Stellen, die ich nachts passierte - keine grölenden Nachteulen mehr befinden, deren Blutgehalt im Alkohol schon bedrohlich tief gesunken ist.

Noch mehr Ansporn wäre mir, wenn die unendlich scheinende Straße weiter nach Bibern in einen Waldweg  verwandelt werden könnte. Wunschdenken eines müden Läufers.

Nach der Verpflegung in Bibern mache ich mir keine Mühe, das Laufen wieder aufzunehmen, denn gleich kommt ein nahrhafter Aufstieg, an welchem ich keine Lust verspüre, mich zu quälen. Der stark auffrischende Wind auf der Anhöhe bringt mich dann umgehend wieder zum Laufen, was meinen Temperaturhaushalt wieder in Ordnung bringt, nachdem es vorher eine Weile genieselt hat.

Hinunter nach Arch werde ich von zahlreichen Staffelläufern überholt. Eine der Läuferinnen schaut mich an und macht mir ein Kompliment. Sie findet, dass ich noch recht frisch aussehe und locker laufe. Ich sauge diesen Balsam auf – und es wäre mir auch egal, wenn es gelogen wäre, denn die letzten zwanzig Kilometer heißt es: durchbeißen.  Links das Feld, rechts die Aare, so reiht sich ein Kilometer an den anderen, bis in der Ferne die gedeckte Holzbrücke von Büren auftaucht. Dass es anschließend gefühlt in die Biel entgegengesetzte Richtung weitergeht, trägt nicht gerade zum Wohlbefinden bei.

Eigentlich würden mir jetzt 90 Kilometer reichen. Aber wenn ich schon irgendwann nach Biel gehe - und dieses Irgendwann ist jetzt - dann fahre ich dorthin um den Hunderter zu finishen. Und das ist noch nicht hier und jetzt!

Der Kerl an der Kette versucht es nun mit Hundeblick und Mitleidsmasche und wäre fast erfolgreich. Warum nicht wenigstens einen Gang herunterschalten und eine Gehpause einschalten? Während er mich zu überlisten versucht, mache ich in einiger Entfernung vor mir eine Silhouette aus, die jener von Martin Wagen gleicht, mit welchem ich kurz vor Kirchberg ein Stück zusammen unterwegs war. Ein mir bekannter Läufer, dazu ein erfahrenster Ultraläufer; was könnte mir Besseres passieren? Langsam ziehe ich mich an ihn heran und verlangsame prompt zu spät, sodass er fast über meine Latschen stolpert. Er nimmt es mir nicht übel und ich darf mich ihm anhängen. Er spornt mich an, in meinem Tempo weiterzulaufen und mich nicht von ihm bremsen zu lassen, ein Angebot, dass ich dankend ablehne, denn auch wenn meine Pace geringfügig höher ist, ist er es doch, der mich mental zieht.  Und wie wir so durch Feld und Wald ziehen, in der Ebene im Laufschritt, an den Steigungen im Gehen, fühlen sich die Kilometer wieder viel kürzer an.

 
 

Informationen: Bieler Lauftage
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