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Laufberichte

1000 km Biel

17.06.11

An den folgenden Verpflegungsständen trinke ich neben Wasser viel Cola und mache mich mit dem Genuss von Bouillon warm. Gerne würde ich auch Salami-Stücke, wie sie bei solchen Läufen in Italien und Frankreich angeboten werden, essen. Aber außer etwas Obst wie Äpfel, Bananen, die ich gar nicht mag und Orangenscheiben sind nur trockenes Brot und Süßigkeiten im Verpflegungsangebot. Anscheinend lässt sich die Schweizer Rennleitung von dem überaus dümmlichen Kaufmannsspruch „Geiz ist geil“ leiten. Für eine Startgebühr in Höhe von 111 € sollte man doch etwas mehr erwarten können.

Am 50km-Schild angekommen lasse ich wie immer ein lautes Hurra ertönen und noch immer geht es mir sehr gut. Das zweite Teilstreckenende bei km 56 in Kirchberg erreiche ich vollkommen problemlos. Ganz anders als letztes Jahr, als ich verletzungsbedingt und von Dauerschmerzen geplagt dort ankam und einem über 70-Jährigem, der dort schon sitzend pausierte, mitteilte, dass ich da so spät noch nie angekommen wäre. Und sofort musste ich hören: „Na, der Allerjüngste bist Du wohl auch nicht mehr! Sei froh, dass Du überhaupt noch so gut laufen kannst!“

Nun erscheint Heinz-Peter. „Ja, ich habe mich soeben massieren lassen und mir geht es sehr gut! Lasst uns jetzt zusammen laufen, es ist hell und wir können uns wie bei der nächtlichen Dunkelheit geschehen nicht mehr aus den Augen verlieren!“ Mir ist es recht. Nach Beendigung einer ungefähr 20 Minuten dauernden Pause begeben wir uns auf den weiteren Weg. Wir laufen durch das Industriegebiet von Kirchberg und gelangen schließlich auf den sogenannten Ho-Tschi-Minh-Pfad. Er stellt eine leicht zu laufende und ebene Trailstrecke von ca. 12 km dar, der im dichten Laubwald am Fluss Emme entlangführt.

Sehr wohl fühle ich mich und ich stelle wieder mal fest, dass Waldläufe auf Naturwegen für mich viel attraktiver als Straßenläufe in bebauten Gebieten sind. Schließlich erreichen wir den Emmedamm, einen endlos erscheinenden Teerweg und weiter geht’s mit schlürfendem Schritt unter einem wolkenverhangenem Himmel. Es regnet zurzeit nicht. Unweit vom Damm hören wir das Abfeuern von Sturmgewehren. Es hört sich an, als kämen wir in die Nähe einer Kriegsfront. Aber es sind nur Schießübungen, die die wehrhaften Schweizer an Samstagen immer betreiben.

Schon seit über einer halben Stunde verspüre ich starke Schmerzen über meinem Gesäß und zwar dort, wo der Rucksack aufliegt. Durch das nicht trocknende Baumwollshirt hat der Rucksack mittlerweile meinen Rücken blutwund gescheuert. Glücklicherweise erreiche ich neben der nächsten Verpflegungsstelle einen Samariter-Platz.

Sie haben etliche Patienten, die sie gerade behandeln. Ich muss warten und nach ca. 15 Minuten wird mir dann fachgerecht die Wunde eingesalbt und mit einem breiten Wundpflaster überklebt. Ach wie gut, die Schmerzen sind weg…

Frohgemut laufe ich weiter und werde von einem Läufer mit Fahrradbegleitung überholt. Und was muss ich sehen, der Radfahrende trägt eine Startnummer und der Nebenherlaufende bewegt sich in Straßenschuhen. Auf meinen Zuruf:  „Das ist aber nicht fair!“ bekomme ich nur ein Lachen vom Nebenherlaufenden zu hören.

Ich kann mir vorstellen, dass dies nicht die Einzigen sind, die auf solch dreiste Weise betrügen. Wäre ich der Veranstalter der Bieler Lauftage, eine Fahrradbegleitung würde es nicht geben. Warum auch? Es gibt in dichter Folge Verpflegungsplätze und immer wieder behindern Fahrradbegleiter andere Läufer und provozieren wie hier manche zum Betrug.

Ich erreiche Gerlafingen und von nun an verläuft die große 100 km- Runde zurück nach Biel zum Ausgangspunkt. Kurz danach ist das 70-km Schild erreicht und ich hole Heinz-Peter wieder ein, der durch meinen Zwangsaufenthalt im Samariterzelt mir gegenüber Zeit gewonnen hatte.

Unter dunklem wolkenverhangenem Himmel weht uns ein scharfer, kalter Wind entgegen und wieder beginnt es zu regnen. Jetzt aber so, wie vom Wetterdienst angekündigt: sehr heftig und sehr kaltwasserig. Mühevoll und schweigsam laufen wir hintereinander her. Die Straße ist kerzengerade und erscheint endlos. Eigentlich hätte der Schweinehund jetzt wieder eine ideale Gelegenheit für einen erneuten Auftritt. Ich lasse ihn nicht an mich heran, denn ich denke intensiv an vorangegangene lauffreudeeintrübende Hitzeerlebnisse an dieser Stelle. Auch meinem Gesichtssonnenbrand tut dieser „Segen-Regen“ gut…

Endlich kommt Bibern in Sicht. 76 km sind geschafft und es ist das Ende des dritten  Teilstückes, das gewertet wird. Schnell ergreife ich mir am Verpflegungsstand einige Orangescheiben, die ich dann genussvoll esse, darauf hoffend, durch die Einnahme dieser Vitamin-C Gaben von Erkältungserscheinungen verschont zu bleiben.

Gegenüber der Straße ist in einer Scheune eine Massagestation mit Bänken und Wolldecken untergebracht. Auf den Bänken sitzen schon einige Läufer, für die hier Endstation ist und auf den Bus warten, der sie nach Biel zurückbringt.

Mit einem lautstarken NEIN beantworte ich die Frage einer Samariterin, ob ich auch abbrechen will. Es sind ja nur noch 24 km…fast nur noch ein läppischer Halbmarathon, eine Kurzstrecke also, und ich bemühe mich sehr, an das von mir soeben Hinausposaunte zu glauben…

Heinz-Peter und ich bekommen zum Zwecke der Körperentkühlung zuerst mal jeweils 2 Wolldecken, eine für die Beine und eine für den Oberkörper. Auch heißer Kaffee wird serviert. In meiner Wahrnehmung hat sich die Sanitäterin in einen Engel verwandelt. Schließlich erfahren meine Beine auch noch eine sehr wohltuende Massage. Die alte Scheune ist zum Paradies geworden, und ich möchte für immer hier verweilen…

Mittlerweile sind wir schon mindestens eine halbe Stunde hier; der Wolkenbruch hat noch immer nicht sein Ende gefunden und viele Läufer sehen wir am Stand an der gegenüberliegenden Straßenseite  Getränke aufnehmen und ohne Pause zu machen weiterlaufen. Doch jetzt entdecke ich eine mir wohl bekannte unverwechselbare Gestalt. Ein Bayer würde sagen, dass es ein gestand’nes Mannsbild ist. Mein Lauffreund Frank-Ulrich Etzrodt, den ich nur gut gelaunt kenne, ist es. Aber von guter Laune ist diesmal keine Spur zu sehen. Auf mein lautstarkes Zurufen kommt er in die Scheune…seine Füße in Sandalen. Die Schuhe hatte er bei km 56 in Kirchberg abgegeben. Ganz, ganz schlimme Blasen plagen ihn. Und in der Tat, als die Sanitäterin ihm die Strümpfe auszieht, kann man gigantische Hautwölbungen erkennen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lässt der sonst immer strahlende Frank-Ulrich seine Verwundung behandeln.

Mindestens eine Dreiviertelstunde sitzen Heinz-Peter und ich jetzt schon in der trockenen Scheuer, auf ein Ende der vom Himmel fallenden Wassermassen hoffend. Aber es regnet weiter stark. Für die Natur und Landwirtschaft ist es ja gut, denn diese Gegend hatte die gleiche Frühjahrstrockenheit zu ertragen wie die unsrige in Südwest-Deutschland.

Weiter geht’s, Frank-Ulrich in Führung und er verkündet, dass er die steile Anhöhe, die jetzt kommt und die er wie ich sonst immer gegangen war, jetzt joggend nehmen will, um der Körperkälte durch Schaffung von Eigenwärme zu entfliehen. Fest stapft er mit seinen Sandalen auf, und wir folgen ihm nach. Tatsächlich, es nützt. Die schlimme Nasskälte lässt sich durch diese Vorgehensweise leichter ertragen. Ganz bis zur Bergspitze schaffen wir es nicht, wie müssen einige hundert Meter gehen, da der Körper kreislaufbedingte Warnsignale sendet…

Durch einen Wald führt die Straße jetzt ziemlich steil nach untern, und wir laufen mit verhaltenen Schritten. In Arch nach 80 km ist wieder eine VP, wo Heinz-Peter und ich wieder bouillontrinkend in einem Zelt eine Kurzrast einlegen. Frank-Ulrich läuft ohne eine Pause zu machen weite  und wir verlieren ihn aus den Augen.

Unter einem Tunnel queren wir eine Autobahn und sind nun an der Aare angelangt, an einem Fluss, an dem wir bis zum Ziel weiterlaufen werden, denn die Laufstrecke wurde geändert. Die Gegend ist relativ flach und wird intensiv landwirtschaftlich genutzt und somit für die Augen und das Gemüt reizarm.

Der Regen wird schwächer, der kalte Wind ist weg und überhaupt, es ist viel wärmer geworden. Letztendlich hört der Regen ganz auf. Beim nächsten Verpflegungspunkt in Büren unweit einer malerischen Holzbrücke, die über die Aare führt, bestellen wir uns in einem Wirtshaus heißen Kaffee. Es dauert, bis er serviert wird. Als ich dann bezahlen will, muss ich hören, dass Euros nicht angenommen werden. Verständnislos schaut mich die Kellnerin an, als ich behaupte, dass der Euro die Weltwährung sei, und ein Schweizer Laufkollege, der ebenfalls mit uns pausiert hat, lacht laut auf. Puh, es scheint tatsächlich, als wäre das Vertrauen in den Euro erschüttert, was sich auch bei dem gegenwärtig sehr schlechten Umrechnungskurs bemerkbar macht.

Der heiße Kaffee hat wieder gut getan, positive Gedanken übernehmen wieder die Oberhand und ich freue mich, nicht wieder bei tropische Hitze wie die Jahre zuvor an dieser schrecklichen Landschaftsgärtnerei am gegenüber liegenden Ufer der Aare vorbeilaufen zu müssen.

Auf einer Straße unmittelbar am Fluss geht’s vorbei. Das heißt ich gehe schnell, und Heinz-Peter läuft hinter mir her, da er körpermäßig etwas kleiner ist als ich. Mehrere teils wankende Läufer und Geher überholen wir noch. Aber es sind nur noch wenige auf der Strecke zu sehen, da ein viel größerer Teil als sonst durch den Höllenregen entnervt aufgegeben hat.

Endlich ist das Schild km 90 da, dann die letzte Verpflegungsstelle. Mittlerweile habe ich Geschmack an Orangescheiben gefunden und lange kräftig zu. Durst habe ich keinen mehr und trotzdem schütte ich noch zwei Becher Cola aus müdigkeitsverhinderten Beweggründen in mich hinein.

Von nun an wird bei jedem einzelnen km ein betreffendes Schild zu sehen sein. Und es dauert... Die km ziehen sich. Bei km 98 kommt uns Freund Jörg entgegen und wird uns bis kurz vor’s Ziel begleiten. Er litt stark unter der nassen Kälte und als er dann bei km 38 in Oberramssern den Bus sah, biss ihm der innere Schweinehund in den Hintern und er flüchtete hinein…

Km 99 kommt und ergreift die Vorfreude des Zieleinlauftriumphs. Nach einigen Minuten sind wir auf dem blauen Teppich, reißen die Hände hoch und marschieren gehobenen Hauptes durch den Triumphbogen. Ich erlebe das jetzt in Biel schon das 10. Mal und bin wieder genau so ergriffen und glücklich wie die Jahre zuvor.

Im Gegensatz zum vergangenen Jahr konnte ich die Strecke völlig verletzungsfrei bewältigen und während ich das schreibe, muss ich an ein letztjähriges Erlebnis bei einem praktischen Arzt denken, den ich aufsuchte, um mir den steckengebliebenen Kopf einer Zecke an einem meiner Beine entfernen zu lassen. Ich hatte das Finisher-Shirt von Biel getragen, und als ich ihn nebenbei fragte, ob das leichte Ziehen in einem meiner Knien eine Arthrose sein könnte, sagte er: „Ich sehe gerade auf dem Bildschirm, dass Sie 1945 geboren wurden, Sie also noch in diesem Jahr 65 Jahre alt werden. Ich bin 42 Jahre alt und habe bereits Arthrosen. Natürlich ist das eine Arthrose, warum soll es denn keine sein?“ Auf mein Finisher-Shirt schauend, ereiferte er sich weiter: „Bilden Sie sich bloß nicht ein, dass Sie mit Ihrem Supersport unsterblich sind! Sie werden auch sterben…!“

Ich meinerseits betrachtete seinen 42-jährigen, gewiss nicht an Unterernährung leidenden Körper, mit dem er bei den Trierer Antikenfestspielen sehr überzeugend den Weingott Bacchus darstellen könnte, und bemühte mich, ernst dreinzuschauen. 

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Informationen: Bieler Lauftage
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