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Laufberichte

Berlinale mit Weltrekord zum 150ten

25.09.11
Autor: Joe Kelbel

Komisch, der Platz ist sehr unscheinbar. Mir geht es wie den anderen Läufern: Dieser Marathon überstrahlt alles, es ist sehr schwierig die Sehenswürdigkeiten Berlins zu erkennen. Wer es schaffen wird, der wird sich an das Brandenburger Tor erinnern, an sehr, sehr viel Stimmung, die privat von den Berlinern mit Musik und Anwesenheit kreiert wird.

Es wird ein Lauf in Trance werden, soviel ist klar. Jenseits der Wahrnehmung aller Realität, einfach ein Lauf im Taumel eines begeisterten Publikums, dass in unglaublichen Massen die Laufstrecke bevölkert. Gefährlich aber bei den zahlreichen Erstlingen, die haben bald deutlich sichtbar Probleme. Jetzt kommt auch noch Gegenwind auf. Leicht und kühl.

Gegenwind formt den Charakter, den zeigte 1967 Kathrine Switzer beim Boston Marathon. Frauen waren nicht zugelassen. Sie lief trotzdem. Der Race Director entdeckte die Schwarzläuferin vom Pressebus aus und wollte sie aus dem Rennen nehmen. Ihr Freund, ein Bär von Mann, entsorgte den Race Director am Straßenrand. Kathrine Switzer (Jg. 1947) läuft heute in Berlin mit der Startnumemr F50. Ich hätte sie gerne getroffen, doch das Läuferfeld ist sehr weit auseinandergezogen, frei laufen kann ich trotzdem nicht.

Das Kriminalgericht Moabit, Wilhem II wollte seine Untertanen mit der monumentalen Justizburg einschüchtern. Eine der ersten Verhandlungen war 1906 die gegen den „Hauptmann von Köpenick“. Der Besucher sieht die imposanten Hallen, die Gefangenen kommen durch unterirdische Gänge in das Gerichtsgebäude. Hier unten befindet sich auch die Guilontine, mit der am 11.Mai 1949, kurz vor Inkrafttretens des Grundgesetzes, die letzte Hinrichtung vorgenommen wurde. Die Wände sind bekritzelt, keine Worte von Schuld und Sühne, sondern Klaus,  mit „Hossa“ und „Michi loves Maria“ und „Krüger war hier“.  Nunja, ich habe dieses Gebäude nichtgesehen, bin in Trance, bin in einem sagenhaften Marathon, abseits von Gut und Böse.

Nun kurz nach Norden und über die Strasse Alt-Moabit zurück ins Regierungsviertel. Vorbei am Bundestag, die gelben Pfeile von meinem Mauerweg sind noch sichtbar. Erinnerungen werden wach an km 157, als ich hier in den frühen Morgenstunden vorbeigelaufen bin. Dort steht Herbert Steffny, macht Fotos.

Friedrichstraße,  Kurz nach Norden, dann Torstrasse, Rosenthaler Platz.
Otto Braun Srasse, km 11 Alexanderplatz. 1988 und 1989 musste der Fernsehturm am Alexanderplatz wegen Überfüllung geschlossen werden, so viele Ost-Berliner wollten das Marathonspektakel auf der anderen Seite der Mauer verfolgen. Einige DDR-Läufer waren schon zwischen den West-Läufern, sie durften für Verwandtenbesuch ausreisen und starteten unter falschen Namen. Ein Läufer aus Thüringen meldete sich nacheinander unter dem Namen seiner Katze, seines Hundes und seines Heimatdorfes an.

Straussberger Platz, im Mittelalter der Richtplatz Berlins. Zwei Hochhäuser bilden den östlichen Abschluss des Platzes. Haus  Berlin und Haus des Kindes mit Zitat aus Goethes Faust: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.“

Lichtenberger Straße und über die Spree nach Kreuzberg. Oft hielten Grenzsoldaten mit ihren Ferngläsern Ausschau nach den Spitzenläufern auf westlicher Seite. Auf östlicher Seite gab es den Friedenslauf. Der Westberliner Horst Milde, Gründer des Berlin Marthons, nahm mit seinem Sohn Mark auf Ost-Berliner Seite teil, fiel aber unangenehm mit seiner West-Kleidung auf. Mark ist jetzt Race-Direktor hier.

„Dort drüben sitzt ein Verrückter, der durch die Stadt rennen will”. So wurde der Chef Organisator des Berlin Marathons Horst Milde 1980 dem damaligen Polizeichef Klaus Hübner  angekündigt 

Auf der südöstlichen Platzseite, auf dem ehemaligen Wertheim-Gelände, sind die Prinzessinengärten. Engagierte Anwohner haben hier einen Nutzgarten aus recycelten Bäckerkisten, Tetra Paks und Reissäcken angelegt. Der Garten muss jederzeit mobil sein, denn er wird jährlich von der Stadt angemietet.

Kottbusser Tor, Kottbusser Damm km 16 nach Neukölln. Sehr schwierig dieses Punkte zu erkennen, selbst als erfahrener, zeithabender Läufer kann ich in dem Gewusel nur schwer die Orientierung halten.

Hermannsplatz, benannt nach Hermann den Cherusker. Ab jetzt Richtung Westen. Das Karstadthaus steht auf Kreuzberger Gebiet, aber die erste Etage ragt in den Neuköllner Luftraum. Wegen „Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes“ zahlt Karstadt dafür jährlich etwa 8000 Euro an Neukölln.

Gneisenaustraße, Yorckstraße,  km 20. Namensgeber ist der preußische General Ludwig Yorck von Wartenburg, Held der Befreiungskriege gegen Napoleon. Auf der einen Seite Industriedenkmal mit über zwanzig historischen Eisenbahnbrücken, auf der anderen Seite die schicken Restaurants um das einzigartige Gründerzeit-Quartier Rhiemers Hofgarten. Das Schlößchen, eine Jazzkneipe samt Biergarten, empfehlenswert die Jam-Session an Heiligabend.

Rat Pack, die Whisky-Bar. Mann! Ich laufe hier viel zu schnell durch, da werden doch Erinnerungen wach. Wie geil waren diese Nächte im Whiskynebel. Aber mir fällt augenblicklich mein Job als Rasender Reporter heute ein ....es sind viele Eindrücke, viele Bilder, viele Menschen, es ist einfach unglaublich, ich versuche zu berichten!

Ein Läufer, der beim Berlin Marathon abgekürzt hatte behauptete, er hätte aus gesundheitlichen Gründen bis km 35 barfuß laufen müssen, danach erst die Schuhe mit dem Chip wieder angezogen. Heute wird alle 5 km die Zeit per Matte genommen. Ich lauf das erste Mal in Berlin, ich nehme mir alle Zeit der Welt. Mich interessieren nicht die Sehenswürdigkeiten, mich interessieren die Menschen, die Gesichter, die Vielfalt.

Von der Vergangenheit als Automeile künden vergammelte Leuchtkästen. Lofts sind entstanden, wo vor Jahren noch die Hausbesetzer von York 59 ums Bleiberecht kämpften. Potsdamer Straße, Halbmarathon–Marke. Grunewaldstraße, endlos diese Läuferkolonne.

Martin Luther Straße, Rathaus Schöneberg. Der „Kennedy-Grill“ offeriert Kroatische Küche, 23 Stunden lang. Ich muss den Akku der Kamera wechseln. Zuviele Bilder. Immer noch Zuschauer, die nicht verstehen, dass man Fotos während eines Marathons schiessen muss.

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