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Laufberichte

Das Original

 

Ich begebe mich zum Ausgang des Stadions und lokalisiere, wo sich mein zugeteilter Startblock 5 befindet. Insgesamt sind heuer 8 Blöcke mit Startnummern in unterschiedlichen Farben vorgesehen, die hintereinander im Abstand von jeweils 2 Minuten gestartet werden. Auch rechnerisch sorgt dies für Spannung, denn je weiter hinten ein Läufer postiert ist, desto mehr Nettozeit kann er im Verlaufe des Rennens gut machen – wenn es ihm gelingt, vor ihm gestartete Läufer auf der Strecke zu überholen.

Glaubt man dem Wetterbericht, dann wird der 32. Athen Marathon an einem herrlichen Spätsommertag stattfinden. Temperaturen bis ca. 22 Grad werden um Mittag vorausgesagt. Keine Wolke ist am Himmel. Gestern Abend sah das ganz anders aus.

Ich habe heute mein eigenes Frühstück zubereitet, das Hotel bot nur heißes Wasser an, jedoch kein Lunchpaket. Ich bin gewöhnt, für mein leibliches Wohl bei Auslandsaufenthalten selber zu sorgen, daher ist das nur eine Frage der Organisation. In Grätzel um die Karolou-Straße gibt es mehrere kleine Läden, wo man das Nötigste kaufen kann. Mein Vater pflegte rohe Eier zu essen, ich schlurfe nur den Dotter raus. Das Erste, was ich mir im September 2009 bei meiner fünfwöchigen Nordamerika Marathon Running Tour am Ausgangspunkt in NYC kaufte, war ein Wasserkocher. Man kann damit auch Suppen wärmen, rohe Würstchen esstauglich machen und muss auch auf sein 4 Minuten Ei nicht mehr verzichten, falls es um 5 Uhr früh wie in den meisten nicht auf Marathons eingestellten Hotels kein Frühstück gibt. Also stehe ich heute  gut genährt am Start, während Börni im Bus gemeint hat, dass er mit leeren Magen die Fettverbrennung ankurbeln würde.

Ich stehe im Startblock 5, die ergreifende Hymne aus dem 1992 gezeigten Film „Die Eroberung des Paradieses“ zum 500. Jahrestag der Eroberung Amerikas durch Columbus ertönt bei jedem Start eines Blocks. Eine Amerikanerin fragt einen Griechen, ob er ihr sagen könne, von wem diese mitreißende Melodie stammt. Der Mann antwortet: „This ist not a Greek song.“ Ich mische mich diskret ein und sage ihr, dass Vangelis einer der bedeutendsten griechischen Komponisten der Gegenwart ist und die Melodie ein Ohrwurm in den 1990ern war und noch immer ist. Bei meiner Behauptung, dass die Griechen eine Kulturnation sind, bleibe ich dennoch.

Vor mir steht eine Frau um die 50, die heute laut Aufschrift auf dem Shirt ihren 100. Marathon laufen wird. Ein geeigneteren Ort hätte sie sich nicht aussuchen können, sie hat sich bestimmt auch sportlich bestens darauf vorbereitet – im Gegensatz zu mir, der nur auf seiner Grundsubstanz aufbaut.

Nun beginnt auch der Marathon für mich, Börni hat eine Zuteilung für den 2. Block bekommen und ist  nun schon einen guten Kilometer vor mir. Die Dichte des Feldes ist so groß, dass man auf den ersten 500 m immer darauf achten muss, nicht jemandem auf die Fersen zu steigen. Drängler gibt es wie bei jedem Rennen auch hier, sie schubsen andere rücksichtslos weg. Laut Topografie auf dem Plan sind die ersten 4 km auf der Marathonos Allee leicht abfallend, was man nicht immer deutlich bemerkt. Vor mir läuft ein Bekannter, Alfred Akhmetov, ein Russe, 2000 km von Moskau im Ural lebend. Wie trafen uns heuer gleich mehrmals, in Belgrad, St. Petersburg und bei einem Lauf in der Slowakei. Zunächst zieht Alfred aber davon, ich laufe knapp über 6 km/h, er in Begleitung um die 5:30 min/km.

Knapp vor der 5 km Marke mit angeschlossener Versorgungsstation wendet der Kurs nach Osten, in einer kreisförmigen Schleife um das Grabmal der gefallenen Helden geht es wieder zurück zur Marathonstrecke, die in südlicher Richtung nahe dem Meer verläuft und eben ist. Bei der Schleife herrscht Gegenverkehr, zuerst  sehe ich die rechts entgegenkommenden Läufer aus dem Block 4, dann sind es die hinter mir gestarteten Läufer aus Block 6, die nachrücken. Zwei Minuten Abstände sind am Anfang eines Marathons viel, werden aber mit Fortdauer eines Laufes über 42,195 km immer weniger. Bei zwei oder drei 20 Sekunden-Stopps bei den Labestellen sind zeitliche Vorsprünge bald verbraucht.

Wir nähern uns der Ortschaft Nea Makri, das Tempo ist vielfach zu hoch, denn die Steigungen stehen uns nach 10 km erst bevor. An der Versorgungsstelle im Ort werden wie schon bei Kilometer 5 Trinkflaschen gereicht. Das ist nicht selbstverständlich, wenn ich an Wasser in Kübeln denke, das bei so manchem kleineren Marathon in mehrfach verwendeten Plastikbechern eingeschenkt wird. Die Griechen haben Stil und viel Hygiene, das muss man betonen.  Mit einem Clubkollegen von den Marathon Maniacs komme ich zu sprechen. Er möchte wie ich unter 5 h finishen. Doch mir scheint, dass wir beide dem falschen Startblock zugeteilt wurden, denn dieser ist für 4:30 Zielzeiten gedacht.

Langsam begreifen die überhastet laufenden Kollegen, dass der Marathonkurs anzusteigen beginnt. Von Kilometer 11 bis zum 15 km-Abschnitt bei Raffina sind an die 50 Höhenmeter zu überwinden. Dabei ist anzumerken, dass einem ein Anstieg zunächst nur auf 4 Kilometer viel kräfteraubender vorkommt, als etwa ein einzelner 200 m Hügel, auf dem die Strecke dann eben weitergeht. Von weitem hört man die Sirtaki-Klänge, die Sorbas-Melodie wird gespielt. Neben der Straße tanzt eine Gruppe rhythmisch dazu. Ich habe den Film aus dem Jahre 1964 mit Anthony Quinn und Irene Pappas in der Hauptrolle noch als Kind mit 10 Jahren zum ersten Mal gesehen. Man ist gerührt, es ist jener Moment, wo einem bei einem Marathon die Gänsehaut kommt und ein Gefühl der Glückseligkeit spürbar wird. So sind Soldaten mit Marschmusik früher in dem Krieg gezogen und nicht mehr heim gekommen. Marathonläufer sind die Helden unserer Zeit, ihr Hobby ist weitaus ungefährlicher. 

Ich habe heute eine neue Kamera im Einsatz, doch die Optik ist ständig beschlagen. Beim Trinken verschüttet man etwas Wasser, zum anderen ist das Shirt schon feucht, ein trockenes Tuch habe ich nicht dabei. So bleiben Nässespuren am Objektiv.
Dessen ungeachtet sieht man auch ohne Kamerabetätigung, dass nun schon viele nur mehr marschieren. Läufer aus vorigen Blöcken sind zurückgefallen, der Anstieg ist abschnittsweise beträchtlich.  Ich versuche auf Sparflamme zu laufen, schaffe nur mehr Kilometerzeiten zwischen 7 und 8 min.

Bei Kilometer 20 nahe der Ortschaft Pikermi werden Gels ausgegeben. Bei den Laben zuvor neben Wasser auch Bananen, Riegel und Iso. Zu bemerken ist ferner, dass auch an den sogenannten Schwammstationen immer bei der halben Strecke einer 5 km-Einheit zusätzlich Wasserflaschen verteilt werden. Die Wasserversorgung ist also hervorragend. Weniger zufrieden bin ich mit meiner Zwischenzeit – die Halbmarathondistanz erreiche ich mit 2:20. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich auf der zweiten Hälfte zumeist viel langsamer unterwegs bin und sich heute eine Zeit unter 5 h kaum mehr ausgehen wird. Zur 25 km Marke knapp vor der Ortschaft Pallini komme ich nach 2:50  Stunden. 17 km in 2:09 sind machbar, aber warten wir ab.

Was nun Zuschauer entlang der Strecke betrifft, so sieht man sie nur vereinzelt. Manche feuern die Läufer mit „Bravo, Bravo“ an, andere mit Πάμε! Πάμε! (Pame), was man mit „Los geht’s“ übersetzen könnte.  Berührend ist ferner, dass ältere Männer und Frauen den Läufern Ölbaumzweige reichen, die sie auf ihren langen Weg bis nach Athen mitnehmen mögen. Dies ist eine das eigene Gemüt berührende Geste.
Viele vor und hinter mir marschieren schon die ganze Zeit, auch das ist Marathon. Die Athener Veranstalter haben als Schlusszeit 17.30 Uhr festgesetzt, sodass auch Power Walker, deren Startzeit 9.23 Uhr war, die Strecke schaffen können.

Viele hoffen darauf, dass die Steigung bald zu Ende ist und der Kurs danach ein abfallendes Terrain aufweist, wie im Plan angeführt ist. Doch es geht weiter bergauf, durch eine Unterführung bei der Ortschaft Gerakas bis Kilometer 31, wo mit knapp 250 m über dem Meeresspiegel der höchste Punkt der als klassisch bezeichneten Strecke erreicht wird. Etliche Läufer lassen sich von Rotkreuzhelfern am Straßenrand verarzten, wozu auch massieren gehört.

An dieser Stelle möchte ich eine nicht unwichtige Anmerkung einfügen: Je schlechter man sich auf einen Marathon vorbereitet, desto größer sind die Probleme konditioneller Natur beim Läufer. An den großen Citymarathons sind heutzutage zu 20% Läufer registriert, die zwar dabei sein wollen, aber nicht ausreichend für den Lauf trainiert haben. Mit Routine kann man neben solchen Kollegen bestehen, in Wahrheit aber gilt, dass erst eine gute Vorbereitung die Freude am Marathonlaufen erhöht. Ich schreibe mir das nun selbst in mein Stammbuch für 2015.

Jetzt spüre ich die Erleichterung auch in den Beinen, ich finde bald wieder mein gewünschtes Tempo  und kann beim Durchlaufen durch die Athener Vororte Agia Paraskevi und Holargos bis Kilometer 35 wieder Boden gutmachen. Ich laufe auf meinen Spezi, den Russen Alfred auf. Er erzählt, dass er einen Fußmarsch bis Belgrad einplant und erst dann über Moskau in den hintersten Ural zurückfliegen wird. Er freut sich sichtlich, als er die Worte „Schönbrunn“ und „Stephansdom“ ausspricht. Die Russen haben eine Beziehung zu Wien und Österreich, „да“, „да“ (Da), sie sind in den heimischen Schigebieten gerne gesehen.

Alfred erleidet einen Krampf im linken Oberschenkel. Ich reiche ihm ein Perskindol-Päckchen, ein Überbleibsel, das beim letztjährigen Frauenfelder Militärlauf mit angeschlossenem Marathon dutzendfach für Werbezwecke verteilt wurde. Es hilft ihm binnen Sekunden, ein Stück laufen wir noch zusammen, dann fällt er zurück. Dafür kommen zwei Griechen nach, die ich heute schon x-fach überholt habe und ziehen knapp vor Kilometer km 39 an mir vorbei.

Ich blicke auf meine Uhr, 5:01 bei 40 km, wieder einmal geht sich eine sub 5h Finisherzeit nicht mehr aus. Die letzten 2 Kilometer verlaufen durch den Stadteil Pangrati vorbei an der amerikanischen Botschaft, der Musikhalle, dem Hilton Hotel hinunter die Irodou-Attikou-Straße bis zum Eingang des Olympiastadions von 1896, dessen Tribünen aus reinem Marmor sind. Nicht Hunderte, sondern vielleicht Tausend oder noch mehr Zuschauer sonnen sich und applaudieren den einlaufenden Helden zu. Die Stadionuhr zeigt 5:23 an, mit 10 Minuten Abzug im Block 5 und gemäß der Position beim Start sind es 5:12 wie vor 2 Wochen in Casablanca. Der Spruch, „Was es wiegt, das hat es“, ist zutreffend.

Doch ich freue mich diesmal auch, dass ich den klassischen Marathon gefinisht habe. Gäbe es einen Marathonbazar, so würde man vielleicht ein ganzes Nordlandpackage, also Kopenhagen, Stockholm und Helsinki für Athen bieten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil in Griechenland der Marathon „erfunden“ wurde.

Die Finishermedaille ist hochwertig, auch die Gaben in einer Tüte bei Verlassen des Stadions kommen den müden Läufern zugute, nämlich zwei Wasserflaschen, ein Poweradegetränk, ein Riegel und Bananen.

Mein Fazit:

Der Athen Marathon ist längst ein Anziehungspunkt für Läufer aus aller Welt geworden. Der Mythos wird bei diesem Marathon jedes Jahr von neuem zum Leben erweckt. In Athen tragen die Finisher ihre Medaille auch am Tag danach mit Stolz und zeigen sie her. Das sah ich bisher in solcher Deutlichkeit nur in Rom und NYC. Die Strecke jedoch ist wegen ihrer Steigungen auf rund 20 km zu selektiv, um an eine Bestzeit zu denken. Doch Stefano Baldinis 2:10:55 bei den Olympischen Spielen im Jahre 2004 wurden heute, 10 Jahre danach, von Felix Kandie um 18 Sekunden unterboten.

Die Organisatoren des Marathons bekommen von mir die Bestnote, ebenso ist die Versorgung ausgezeichnet. Die Medaille verdient einen Ehrenplatz an der „Wall of fame“, ebenso ist das Shirt so attraktiv, dass ich meines nur zu bestimmten Anlässen tragen werde.

Klaus, unser Chef, hat Recht. Er behauptet, dass man nur einen Marathon gelaufen sein MUSS: Das Original von Marathon nach Athen.

Sieger 2014:

Männer:
1. Felix Kipchirchir Kandie (KEN): 2:10:37
2. Raymond Kimutai Bett (KEN): 2:12:34
3. Josphat Kiptanui Too Chobei (KEN): 2:15:38
Frauen:
1. Maiyo Naomi Jepkogei (KEN): 2:41:06
2. Nancy Joan Rotich (KEN): 2:41:29
3. Linah Jerop Chirchir (KEN): 2:42:41

 

 

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Informationen: Athens Authentic Marathon
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