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Laufberichte

Schicht im Schachen

20.09.14

Mein Ziel heißt Geissenschachen. Wer weiß heutzutage noch, was ein Schachen ist? In der Schweiz ist ein Schachen unter anderem eine Niederung. Wenn ich zum Geissenschachen fahre, dann bedeutet das aber nicht, dass ich mich in die Niederungen der schrecklich glamourösen Protz-Proll-Familie des Privaten Fernsehens begebe.

Schachen ist auch die Bezeichnung für Uferland oder Waldstück oder Waldrest. Alle diese Bezeichnungen treffen auf mein Ziel zu. Der Geissenschachen ist ein bewaldete Insel in der Aare bei Brugg und Windisch.

Wer in Windisch vorbei kommt, kommt nicht an der Geschichte vorbei, nicht einer literarischen, sondern der historischen. Vindonissa hieß der Ort damals und war ein Legionslager der Römer. Heute gilt er als einer der  wichtigsten römischen Fundplätze nördlich der Alpen. Dem interessierten Besucher steht nicht nur das Amphitheater zur Besichtigung zur Verfügung. Am Legionärspfad, einem Römer-Erlebnispark und im Vindonissa Museum kann man in jene Welt eintauchen.

Ich überquere das Strängli, den kleinen Nebenarm der Aare, welche den Geissenschachen zur Insel macht. Etwas weiter oben überspannt seit Jahrhunderten eine Brücke an einer besonders schmalen Stelle die Aare und wird seit dem 12. Jahrhundert von einem der baulichen Wahrzeichen der Stadt Brugg, dem Schwarzen Turm flankiert.

Auf dem ersten Stadtsiegel ist schon das Bild der Brücke zu finden und es findet sich noch heute im Stadtwappen. Auch der ursprüngliche Name des Ortes, vom Grafen von Habsburg in an das Kloster Muri gerichteten Bestätigung seiner Güter, ist bis heute – von einem Buchstaben weniger abgesehen – der gleiche.  Damals Bruggo, heute Brugg.

Es ist lange her, seit ich kurz vor Mitternacht eine Startnummer abgeholt habe. Zusätzlich dazu gebe ich im Fahrzeug der Zeitnehmer das Sponsorenblatt für Pro Infirmis ab, der größten Fachorganisation der Schweiz für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen. Meine Arbeitskolleginnen (da sie in der Überzahl sind, verwende ich ausnahmsweise die weibliche Form, obwohl ich sonst für bessere Lesbarkeit immer die männliche gebrauche) und –kollegen haben sich bereit erklärt, pro zurückgelegte Runde einen Betrag zu spenden. Die will ich überraschen. Wenn mein Kopf nicht mehr will und ich die Füße über den Asphalt schleppe, dann soll mir das Motivation sein.

Die 24-Stundenläufer nähern sich ihrer Halbzeit und wir uns der Startlinie. Es ist ein überraschend  kleines Grüppchen, welches sich zu diesem Unterfangen bereitmacht. Dabei ist dies die SM. Genau deswegen! Was jetzt? SM ist nicht anderes als die Abkürzung für Schweizermeisterschaft. Aber offensichtlich ist ein 12-Stundenlauf für zu viele Läufer ein SM-Unternehmen der anderen Gattung. Wieso auch? Die Teilnahme ist freiwillig, es ist niemand irgendjemandes Sadismus ausgesetzt. Masochismus? Nein! Ein gewisses Maß an Leiden wird dazugehören, doch den Gewinn werde ich nicht aus dem Leiden ziehen. Es ist das Überwinden der physischen und mentalen Hindernisse, die sich mir in den Weg stellen werden, welches in mir ein gutes Gefühl zurücklassen wird. Falls ich sie überwinde.

Die erste Runde ist dem Kennenlernen der 934,8 Meter gewidmet, welche ich mindestens so viele Male zurücklegen will, dass es 50 Kilometer ergibt. Wenn es gut läuft, sollten 80 drin liegen.  Der asphaltierte Rundkurs bietet insofern Abwechslung, als die Zelte für Eigenverpflegung und Materialdepot und der offizielle Verpflegungsposten auf der gegenüberliegenden Seite der Tribüne angeordnet sind. Auf diese Weise ist die Runde zweigeteilt und weniger monoton. Entlang der folgenden Geraden stehen Zelte und weitere individuelle Versorgungsposten.  In Ermangelung von Straßenlampen und um uns nicht das Tragen von Stirnlampen zuzumuten, sind in regelmäßigen Abständen Beleuchtungen mit Blendschutzbrettern angebracht.  Dazwischen liegen noch Leuchtstäbe, wie sie bei Ultratrails nachts manchmal an den Rucksack gehängt werden müssen. Für alle und alles ist gesorgt.

Auf den ersten Runden versuche ich die Balance zu finden, nicht zu schnell und trotzdem effizient zu laufen, was ich bei der Unterschreitung einer gewissen Pace nicht mehr kann. Dabei verlasse ich mich auf mein Gefühl, die Uhr am Handgelenk beachte ich gar nicht.

Die Temperatur ist optimal, deshalb plane ich, erst nach jeder fünften Runde einen Halt am Verpflegungsposten einzuschalten. Mit diesen kürzeren – Start/Ziel und Verpflegungszelt – und längeren Zwischenzielen vergehen die ersten beiden Stunden im Nu. Das Verpflegungsangebot beinhaltet so ziemlich alles, was des Ultraläufers Herz begehrt. Wasser, Iso, Cola, Malzbier, Tee, Rivella, Kaffee und Gemüsebouilllon auf der flüssigen Seite und bei der festen Nahrung entdecke ich noch nach Stunden Neues. Verschiedene Salzgebäcke , Butterstullen, Käsebrothäppchen, Brot, Nutellaschnittchen, Schokolade, Kekse, Kuchen, Trauben, Äpfel, Melone, Pasta, Kartoffelstock, Pellkartoffeln… In gewissen Restaurants hätte dieses Angebot nicht mehr auf der Kleinen Karte Platz!

Hatte ich in der zweiten Runde noch Bedenken, wie ich mich dreißig Runden später fühlen werde, so sind auch nach vierzig Runden keinerlei Probleme spürbar. Auch die Kniescheibe, welche ein paar Tage zuvor ein schmerzhaftes Kennenlernen des Schubladenstocks ertragen musste, hat ihr Meckern schon nach ein paar Runden eingestellt. Bei jedem Durchlauf bei der Tribüne bekomme ich auf der großen Uhr bestätigt, dass ich auf meine Marschtabelle einen Vorsprung habe.

Irgendwann verliere ich das Gefühl, welche Uhrzeit es ist. Wenn man mich fragen würde, müsste ich es aus der letzten Durchgangszeit herleiten. Die Uhr läuft und der Raum, in welchem ich mich bewege, ist begrenzt. Dennoch habe ich das Gefühl, mich in einem unbegrenzten und zeitlosen Raum zu bewegen.

Irgendwann erleuchtet fernes Wetterleuchten den Nachthimmel und das dumpfe Grollen ist weit entfernt. Bis es dann kräftig kracht, kurz nachdem die Blitze den Schachen taghell erleuchtet haben. Ich hoffe, dass das Gewitter schnell abzieht. Regen ist in Ordnung, da sind wir nach diesem Sommer geeicht, aber ein Rennabbruch wegen der elektrostatischen Ladung würde nicht in mein Vorhaben passen. Ich will laufen bis die Batterien leer sind.

Mein Wunsch wird erhört, der Donnerhall ist nach dem Blitzen immer später zu hören, dafür öffnen sich die Schleusen mit aller Kraft. Läge ich jetzt im Bett, würde ich denken: „Die armen Schweine, die bei dem Wetter draußen sein müssen!“  Aus der jetzigen Perspektive sehe ich das völlig anders. Ich finde es interessant, denn ich muss mir keine Gedanken machen, wie viel Wassersäule die Jacke erträgt. Ich habe keine dabei und brauche dank der milden Temperatur auch keine, also laufe ich einfach weiter.

Viele andere Läufer legen einen Unterbruch ein und versuchen sich im Trockenen unterzustellen oder in ihrem Wohnmobil gar ein wenig zu schlafen. Ich laufe weiter und das Wasser fließt nur so herunter (völlige Untertreibung). Ist das der berühmte Flow, von dem die Läufer immer erzählen…?

Irgendwann wird es einem Teil der Elektronik zu bunt, vielmehr zu nass. Auf der Tribüne brennt kein Licht mehr, die Anzeige mit der Uhrzeit ist dunkel und der Zielbogen in sich zusammengesackt. Die Projektion der aktuellen Durchlaufdaten ist auch nicht mehr möglich, doch die Datenregistrierung im Hintergrund ist gesichert. Wenn’s nur das ist und ich dem Noah nicht noch unter den Kiel seiner Arche komme…

Unter einer mächtigen Buche ist die Strecke seit den Windböen mit Bucheckern übersät. Für den 24-Stunden-Barfußläufer nicht gerade ideal, aber prickelnd. Aber der 24/12-Stundenlauf in Brugg wäre nicht was er ist, wenn nicht einer der vielen freundlichen Helfer mit einem Besen Abhilfe schaffen würde.

Mit dem Start zum 6-Stundenlauf ist die Halbzeit erreicht; noch ist es dunkel und es ist noch kein Morgengrauen im Anzug. Weder der einen noch der anderen Art. Andernorts würde ich auf der Stelle einschlafen, hier bin hellwach.

Die frischen und schnellen Läufer der „Kurzdistanz“ geben virtuellen Windschatten und später am Morgen stoßen immer wieder andere dazu, teilweise ganze Familien, welche als Spendensammler ihre Runden drehen.

Nach 70 Runden fühle ich mich erstmals so richtig schlapp, doch ich weiß, dass ich mein zweites Ziel problemlos schaffen werde. Nach zehn weiteren sehe ich sogar das dritte im Bereich des Möglichen. Sofern ich beißen kann. Der Gedanke daran, dass eine Arbeitskollegin einen zusätzlichen großen Spendenbetrag in Aussicht gestellt hat, falls ich sogar diese Grenze knacke, treibt mich an. Immer wenn sich der kleine Untermieter mit defätistischen Aufforderungen zum Abbruch meldet, lasse ich vor meinem inneren Auge die in Aussicht stehenden zusätzlichen Spendenfranken in die Kasse klimpern.

Meine Stopps beim Verpflegungsposten werden immer länger. Ursächlich ist aber nicht, dass ich mich erst durch einen Teil des Angebots gekostet habe. Gabriele, die Führende, überrundet mich zum weiß-nicht-wie-vielen Mal und sagt: „Jetzt einfach nicht die Sinnfrage stellen.“

Das Anlaufen nach diesen Pausen bereitet mir Mühe. Wenn ich aber wieder in meinem Trott bin, dann läuft die Maschine. Nicht mehr gleich elastisch aber so, dass die 100 Runden ohne Stress zu schaffen sind. „Dann aber ist Schluss“, sage ich mir und den immer noch aufgestellten Leuten am Verpflegungsposten. „Ach komm, wenn du die Hundert in Sachen Runden schaffst, packst du auch die mit den zurückgelegten Kilometern“, sagen sie und haben aus ihrer Warte rechnerisch Recht. Bei mir muss aber noch ein Umdenken stattfinden, denn das hatte ich nicht vor, weil nicht für möglich gehalten.

Mit einem Jubelschrei überquere ich nach der hundertsten Runde die Zeitmessmatte und versuche bei einer Gehpause abzuschätzen wie realistisch es ist, in den Einhundert-Kilometer-Club der 12-Stundenläufer zu gelangen. Mit flottem Marschieren wäre es möglich, ich muss nur wollen. „Also, komm, lass dich nicht lumpen. Es wäre gelacht, wenn du die 8% des bisherigen nicht auch noch draufpacken würdest.“ Als Fußballer würde ich sagen: „Das ist alles nur noch Kopfsache – und der
Rest ist mental.“

Die nächsten fünf Runden lege ich getrieben vom Wunsch zurück, das nächsthöhere Ziel auch zu erreichen. Die folgenden drei mit der Sicherheit, das zu schaffen, die anschließenden zwei mit der Idee, dass sich eine Schnapszahl  in der Auswertung gut machen würde, und die letzte mit der Freude einer Zugabe. Ich rechne mir aus, dass ich es bis zum Schlussknall noch bis zum Verpflegungsposten oder ein bisschen darüber hinaus schaffen werde.

Ein letzter Blick zwischen die Bäume hindurch auf die Aare (könnte ich in hohem Bogen in die Aare spucken, ginge es nicht lange und meine etwas dicke Spucke würde durch das zufließende Wasser der Reuss und der Limmat verdünnt, bevor sie wenige Kilometer später vom Rhein aufgenommen und in Richtung Meer mitgetragen würde), dann bin ich da und damit weit über dem Ziel meiner Träume. Das Markierungshölzchen lege ich, zusammen mit einigen andern Läufern mit der gleichen Idee, vor der Trankstelle auf den Boden. Ein paar Meter mehr oder weniger in der Schlussabrechnung, das ist mir jetzt egal.

Fertig, Schluss, Flasche leer. Bis das Team mit dem Messrad kommt, können wir mit einem Rivella auf das Geschaffte anstoßen.

Wenig später kommt ein Personentransporter, der uns zu den heißen Duschen bringt. Das nenn ich Service, denn im Normalfall wäre man zu Fuß in gut fünf Minuten dort. Aber Fredi Büchler und sein Team wissen, dass es stimmt, was gemeinhin über die Ultraläufer erzählt wird, dass wir eben nicht der Normalfall sind. Besonders für den Rücktransport zum Schachen bin ich froh um diesen Service. Die Sonne, welche sich gegen Mittag mehr und mehr durchgesetzt hat, macht Pause und lässt einen weiteren heftigsten Regen unter Abspielen von Krachen und dazugehörender Lichtschau zu. Deswegen wird auch im Zielbereich umdisponiert. Alle noch Anwesenden quetschen sich für die Siegerehrung in die Holzbaracke und das Podest wird auch noch angeschleppt.

Aus den Händen eines Mitglieds der Brugger Exekutive dürfen die Blumen und Pokale entgegengenommen werden. Als samstäglicher Sponsorenläufer hat er eine Ahnung, welche Leistung jeder Einzelne abgeliefert hat.

Bei der geringen Dichte des M50-Feldes habe ich mir ausrechnen können, dass in dieser Kategorie die Chancen nicht aufs Podest zu kommen, praktisch nicht besteht. Dass es gleich für den ersten Rang reicht, ist eine Überraschung und eine neue Erfahrung.

Dass sich das Durchbeißen in den letzten Stunden des Laufs gelohnt hat, wird bei der Rangverkündigung der Wertung der Schweizer Meisterschaft klar. Weil der Dritte in der Gesamtwertung nicht Schweizer ist, werde ich dazu aufgerufen, die Treppchenstufe mit der Drei zu besteigen, was nicht mehr mit besonderer Eleganz gelingt. Neben Ramon, dem neuen Schweizermeister und Daniel, der sich hart hat durchkämpfen müssen, bin ich irgendwie eine Fehlbesetzung da oben. Aber eben: Schneller und weiter könnten noch ganz viele andere Schweizer. Sie müssten nur den Mut haben, sich der Herausforderung zu stellen, während Stunden auf der gleichen Strecke im Kreis zu laufen. Hatten sie offenbar nicht, weshalb die für mich auch neue Erfahrung eine auf verschiedensten Ebenen wurde.

Sicher war die Medaille die Krönung meiner neuen Lauferfahrung. Doch die ruhige, familiäre und freundschaftliche Atmosphäre, die hervorragende Betreuung und die gute Infrastruktur sind Grund genug, sich diesem Abenteuer ein anderes Mal wieder zu stellen!

 

Siegerliste SM 12 Stunden

 

Männer

1.Casanovas, Ramon SUI Le Landeron 127,582
2.Schwitter, Daniel SUI Binningen 121,571
3.Steiner, Daniel SUI Marathon4you 105,036

Frauen

1.Werthmüller, Gabriele SUI ZuchwilLG 126,311
2.Verga, Claudia SUI Pratteln 78,996
3.Marolf, Rosemarie SUI Biel  76,916

 

Informationen: 12/24 Stundenlauf Aareinsel Brugg
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